Mit Werken von Paul Hindemith, Toshio Hosokawa, Iannis Xenakis, Giovanni Sollima u. a. schlug der avantgardistische und zugleich klassische Cellist Michele Marco Rossi beim Barockfestival Viterbo einen Bogen zwischen den Kontinenten. Von Stephan Reimertz
Zwischen Avantgarde und Tradition
Michele Marco Rossi ging es stets darum, das Repertoire des Cellos sowohl historisch als auch technisch zu erweitern. So hat er Solostücke von Georges Aperghis, Ivan Fedele, Bernhard Gander, Zeno Baldi und Pasquale Corrado aus der Taufe gehoben, um nur ein paar zu nennen. Er bewegt sich von der Instrumentalmusik zum Avantgarde-Theater, elektronischer Musik und Videoinstallationen. Er hat schon mit Enno Poppe, Helmut Lachenmann, Unsuk Chin, Klaus Huber und Ennio Morricone gearbeitet. Regelmäßig ist er auf Rai Radio3 mit musikalischen und pädagogischen Vorträgen zu hören. 2022 verlieh ihm der Nationale Musikkritikerverband den Premio Abbiati del Disco für seine Aufnahme von Ivan Fedeles gesamter Cellomusik. Seit 2023 kooperiert er mit dem Archi magazine und kuratiert eine Kolumne, die seine Gespräche mit den größten Komponisten unserer Zeit enthält. Einen nachgerade phantastischen Eindruck vom künstlerischen Temperament und der Vielseitigkeit seines Repertoires gab er in einem Solokonzert beim Barockfestival »Alessando Stradella« in Viterbo.
Ein Sakralraum als Partner
Die kleine Kirche des Hl. Sylvester, eines der ältesten Gotteshäuser von Viterbo, bildete den phantastischen und würdigen Rahmen dieses außergewöhnlichen Soloabends. Das Gebäude war mehr als ein Spielort, sie war gleichwertiger Partner und Ergänzung eines sowohl archaischen als auch kühnen musikalischen Wagnisses. Ihre schlichte Fassade mit dem markanten Glockenturm verweist noch auf mittelalterliche Bauformen. Im Inneren birgt die Kirche eine kleine, im sechzehnten Jahrhundert mit einem Noli me tangere freskierte Apsis sowie ein hölzernes Kruzifix aus dem siebzehnten Jahrhundert. Berühmt wurde der Ort jedoch durch ein blutiges Ereignis: 1271 verübten Guido und Simone de Montfort während der Messe ein Attentat, bei dem Enrico di Cornovaglia, ein naher Verwandter des englischen Königshauses, brutal ermordet wurde. Dieses Sakrileg löste in der mittelalterlichen Welt einen Aufruhr aus, dessen Echo bis in die Dichtung Dantes reicht, der den Mord in seiner Divina Commedia (Inferno XII, 119–120) schildert.
Von Hindemith bis Hosokawa
Beinah ebenso aufregend war Michele Marco Rossis Solokonzert, das man einerseits der Avantgarde zurechnen, andererseits voll und ganz als Bestandteil eines Barockfestivals verstehen konnte. Rossi begann mit Paul Hindemiths scharfkantiger Cellosonate. Die wuchtige Komposition machte wieder einmal deutlich, warum der hessische Komponist auf keinerlei Sympathien bei der Kulturpolitik des »Dritten Reiches« stieß, andererseits aber der Avantgarde der Schönbergschule, namentlich Adornos, mitnichten frommte. Mit der Huldigung an diesen Komponisten, der sich seines eigenen Kopfes wohl bewusst war, gab Rossi seine Visitenkarte ab und kündigte an, dass man es bei ihm ebenfalls mit einem Musiker von starkem eigenen Stil zu tun hat.
Sodann sprangen wir mit dem Cellisten in der Tat vom Abend- in das Morgenland. Mit Kurodabushi des 1955 geborenen japanischen Komponisten Toshio Hosokawa lernten wir ein von der Tradition inspiriertes japanisches Lied kennen, das militärische Würde und volkstümliche Kraft vereint. Hosokawa blendet in seinem Schaffen westliche Avantgarde mit der Ästhetik traditioneller japanischer Musik ineinander. Rossi war hier vollkommen in seinem Element und trug das Stück mit Verve und Identifikation vor. So wurde er einer Komposition voll und ganz gerecht, die versucht, heroische Gestik mit melodischer Eleganz und kultureller Symbolik zu verbinden.
Ein weiter Bogen der Cello-Kunst
Frappant war der Sprung zurück ins siebzehnte Jahrhundert. Mit Domenico Galli (1649–1697) wandte sich Rossi zum Staunen der Zuhörer einem italienischen Cellisten, Komponisten und Instrumentenbauer zu, der zu den frühen Wegbereitern der solistischen Cellomusik zählt. Er wirkte meist am Hof des Herzogs Francesco II. d’Este in Modena. Die Sonata V für Cello aus seiner Sammlung Trattenimento musicale sopra il violoncello zeigt Gallis innovativen Umgang mit dem noch jungen, typisch norditalienischen, Soloinstrument. Sie verbindet virtuose Passagen mit kantablen Linien und belegt die wachsende Ausdruckskraft des Cellos im siebzehnten Jahrhundert. Rossi zeigte, wie sehr er in den klassischen Tagen seines Instrumentes zu Hause ist.
Kottos von Iannis Xenakis wiederum, geschrieben 1977, ist ein Solo-Werk für Cello, das sich durch seine extreme physische und klangliche Intensität auszeichnet. Der Titel bezieht sich auf einen der Hekatoncheiren der griechischen Mythologie, bekannt für seine hundert Arme und fünfzig Köpfe, was die monumentale und kraftvolle Struktur des Stücks widerspiegelt. Die Komposition nutzt komplexe rhythmische und klangliche Texturen, die den Cellisten herausfordern und gleichzeitig die expressive Bandbreite des Instruments erweitern. Mutig und zugleich signifikant für seine Herangehensweise an die Musik kann diese Wahl Rossis genannt werden, und es waren gerade seine muskantischen Stärken, die uns dieses sehr griechische Werk nahegebracht haben.
Die Cellosonate in C, Op. 119 von Sergej Prokofjew, komponiert 1949, gehört zu seinen bedeutenden spätromantischen Werken. Sie zeichnet sich durch kontrastreiche Stimmungen aus, die von lyrischer Ruhe bis zu dramatischer Intensität reichen. Rossi zeigte, wie selbstverständlich er mit einer technisch dermaßen anspruchsvollen Komposition umgeht, die expressive Melodik mit rhythmischer Vitalität und tiefgründiger Harmonik verbindet.
Aufbruch zu neuen Ufern
Giovanni Sollima wiederum, 1962 geborener Komponist und Cellist, schuf 1998 mit Lamentatio ein Solo-Werk von expressiver Intensität. Die Komposition kombiniert Elemente gregorianischen Gesangs mit modernen Klangtechniken und rhythmischer Energie, was sie zu einem einzigartigen Werk im Repertoire für Solocello macht – und zu einem idealen Stück sowohl für Michele Marco Rossi als auch für die Kirche des Hl. Sylvester. Sollima selbst bezeichnete das Werk als eine »Reise der Klänge«, die den Zuhörer in eine tief emotionale und meditative Klangwelt entführt. Rossi beendete seinen eindrucksvollen Soloabend indem er ein expressives Lautgedicht von Blättern ablas, die er alsdann in den Altarraum warf. Nichts hätte den Aufbruch eines engagierten Solo-Cellisten zu neuen Ufern schöner zeigen können.
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| Festival Barocco Alessandro Stradella | Orient / Occident Michele Marco Rossi |
| Viterbo / Latium, Italien | 30. August bis 28. September 2025 |
Was das Konzert so besonders machte:
- Avantgarde trifft Barock in Viterbos Sakralraum
- Werke von Hindemith, Hosokawa, Xenakis und Sollima
- Michele Marco Rossis Cello voller Intensität und Vielfalt
Michele Marco Rossi at the Baroque Festival in Viterbo
With works by Hindemith, Hosokawa, Xenakis, Sollima and others, Michele Marco Rossi created a bridge between avant-garde and tradition at the Alessandro Stradella Baroque Festival in Viterbo. The versatile cellist opened with Hindemith’s sharp-edged Sonata before moving to Hosokawa’s Kurodabushi, blending Japanese tradition with modern aesthetics. A striking contrast came with Domenico Galli’s Sonata V, an early milestone in solo cello music.
Xenakis’ Kottos, a work of eruptive force and intensity, brought the audience back to modernism, followed by Prokofiev’s Cello Sonata in C, Op. 119, which displayed Rossi’s technical mastery. Sollima’s Lamentatio, fusing Gregorian chant with contemporary sounds, formed the climax of the program.
The venue, the Church of San Silvestro, one of Viterbo’s oldest sacred sites, enhanced the performance. Its medieval structure, Renaissance frescoes and dramatic history—including a 13th-century murder later immortalized by Dante in the Divine Comedy—provided a powerful setting. Rossi concluded by reading a sound-poem from scattered leaves, symbolizing a cellist’s journey toward new horizons.






Eine sehr gute und ausführliche Rezension eines herrlichen Konzertabends!
Nur eine Berichtigung: Von Prokof’ev wurde nicht die C Dur-Sonate op. 119 für Cello und Klavier aufgeführt, sondern die Fis moll-Sonate (Fragment) für Cello solo op. 134 (op. 133 in Prokof’evs Handschrift). Dieses Fragment war das allerletztes Werk des Komponisten (1952).
Vittorio Mascherpa