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„Tamerlano“ in Göttingen: Mad, Crazy, Real?

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Doppelbödiges Gothic-Noir-Spektakel: Händels Festspieloper „Tamerlano“ als düsteres, klaustrophobisches Seelenkammer-Drama bei den Internationelen Händel-Festspielen Göttingen 2025, welche unter dem Motto: „Lorbeeren“ stehen. Von Barbara Röder.

Spiegelkabinett der Gefühle

In staubigen Lichtkegeln, die ins Orchester geworfen werden, tänzeln Partikel weißen Puders. Grüne Lorbeerblätter rieseln in die mit Spiegeltüren ausstaffierte, lackierte Black Box. Dieser Tamerlano-Guckkasten, den der Bühnenarchitekt Tiziano Santi für die diesjährige Eröffnungs-Opernpremiere „Tamerlano“ erdacht hat, wird im Laufe des Abends Risse bekommen. Die inneren und äußerlich sicht- und hörbaren Emotionen, Hass, Begehren und Schwüre bis hin zur finalen Todesszene Bajazets, dem vom Tataren Tamerlano gefangenen Osmanen, scheinen von den Wänden reflektiert und zugleich aufgesogen zu werden. 

Händels Opera seria „Tamerlano“ mit den Versen seines kongenialen Librettisten und Cellisten Nicola Francesco Haym orientiert sich an den Libretti „Il Tamerlano“ (Venedig 1711) und dem grundlegend überarbeiteten Libretto „Il Bajazet“ von Conte Agostino Piovene. Als literarische Quelle der Textbücher diente das französische Schauspiel „Tamerlano ou La Mort de Bajazet“ (Paris 1675) von Jacques Pradon. Ein einzigartiges Novum dieser Händel-Erfolgsoper war, dass erstmals ein Tenor eine Hauptpartie anstelle eines Counters sang und ein weiteres Novum, eigentlich ein No-Go war, dass auf offener Bühne ein Selbstmord vollzogen wurde.

Tamerlano: Macht, Wahnsinn und Begehren

Das Dramma per musica „Tamerlano“ erzählt die Geschichte um die beiden Rivalen, den Tatarenfürsten Tamerlano und den nicht minder nach Gewalt und nach Rache dürstenden Osmanenführer Bajazet. Bajazets Tochter Asteria weigert sich, Tamerlano, der sie mit Ihrem Vater in seinem Palast gefangen hält, als Braut überlassen zu werden. Die Oper endet mit dem musikalisch hochexplosiven Sterbeszenen-Suizid Bajazets. Dass Asteria den Vertrauten Tamerlanos liebt und dieser sie, dass Irene, die Verlobte Tamerlanos Andronicos ehelichen soll, da Tamerlano Asteria begehrt, macht das Verwirrspiel um Macht und Liebe kompliziert und komplett. 

Revolutionäre Stilikonen auf der Opernbühne

Claudia Pernigotti hat die Kostüme für die, wie Archetypen aus der Geschichte heraustretenden Protagonisten, kreiert: Tamerlano mit Puderquaste, Gehrock und Zopf ähnelt Danton, dem französischen Revolutionär und Politiker. Natürlich assoziieren wir auch Karl Lagerfeld, den Geniekreator von Chanel, mit diesem Machtmenschen Tamerlano. Beide verkörpern Macht, sind Ikonen der Macht.

Es scheint, als hielte Regisseurin Rosetta Cucchi uns mit ihrer geglückten, psychologisch verdichteten Menschenstudie einen Spiegel vor. Ihre Figuren des bizarren Ränkespiels um Macht, das befriedigt werden will, bewegen sich in einer nicht genau verorteten Gegenwart. Alle Formen der Macht werden im Spiel um diese ausgelebt: Liebesmächte, die Allmacht der Eifersucht oder die Gier nach Anerkennung. Diese Kräfte treiben alle an. Ein jeder Sängerdarsteller wirkt unentrinnbar gefangen in seiner eigenen Welt, seinem eigenen Kosmos. Vielleicht müssen alle aber schlichtweg überleben in einem Universum, das durch Zwänge der Politik, der Kriege Menschen zu Schachfiguren werden lässt, ohne Ausweg oder Wahl. Die Individualität bleibt außen vor. Selbstbestimmt zu leben und zu handeln ist und bleibt eine Utopie. Ein immer gültiges Menschenthema!

Cucchis Blick ist tief, intelligent und ganz aus dem Geiste der Musik heraus inszeniert. Zu spüren ist, dass Cucchi Musikerin ist und sich von ihrer Partiturkenntnis leiten lässt. Was wir sehen, wirkt atmosphärisch düster, beklommen und zutiefst einfühlsam.

Klang der Finsternis

Diese dramaturgische Tsunami-Sogwirkung kommt ebenso aus dem fulminant aufspielenden Klangkörper des Alte-Musik-Festspiel-Orchesters unter der Leitung von George Petrou. Der fein ziselierte, flexible uns auch kraftvoll zupackende Göttinger Petrou-Klang bietet ein sicheres musikalisches Netz für die barocken Affekte, welche die Sänger im schwarzen Seelen-Guckkasten durchleben. Die Musik pulsiert, vibriert, bebt, tönt manchmal kristallin, furios in den Verzweiflungsarien oder innig verzehrend im berückend schönen Duett Asteria-Andronico.

Gesichter der Verzweiflung

Louise Kemény (Asteria) und Yuriy Mynenko (Andronico) verkörpern ein sich nacheinander sehnendes, zutiefst unglückliches Paar, das am Ende doch zueinander findet. Keménys süßer, stabiler Sopran klingt ein wenig aufgeraut. Das tut der Partie, der Vater verbundenen, unfreien Tochter gut. Der Countertenor Mynenko, im Star Wars- oder im Raumschiff-Orion-Outfit, besticht mit seinem lyrisch tönenden, aufwühlenden Gesang ebenso wie mit seiner wandelbaren Bühnenpräsenz. Dara Savinova brilliert als verstoßene Prinzessin Irene mit leicht süffigem Mezzo-Grandezza, verspieltem Charme und geschmackvollem Sexappeal. Als Vertrauter Andronicos Leone versprüht Sreten Manojlović bassoralen Glanz und sonore Geschmeidigkeit.

Lawrence Zazzos (Tamerlano) überschäumende, farbintensive Koloraturarien des Zorns, der Wut und des Außer-sich-Seins, die Händel in die Kehle seines Titelhelden Tamerlano, der so gar kein Held ist, hineinkomponierte sind funkensprühende Feuerwerke. Zazzo gelingt ein ausgefeiltes Despoten-Psychogramm, der auf dem Weg in die Menschlichkeit innerlich zerbrochen zurückbleibt. Ein Ausnahme-Interpret, der nuancenfarbig die hohe virtuose, das Ohr betörende Kunst des Gesanges beherrscht und den Charakter der vielschichtigen Partie in die Stimme zu packen vermag!

Juan Sancho präsentiert als Bajazet die Charakterzeichnung eines Getriebenen, der sich nur selbst fühlt und spürt in der Erniedrigung seiner Feinde, so deutet er alle um sich herum. Er ähnelt Tamerlano. Erscheint aber bei Cucchi als ein Ausgestoßener, ein Opfer par excellence. In Lumpen und Ketten wird der Natur verbundene Bajazet präsentiert. Juan Sancho zeigt glaubhaft einen zutiefst gedemütigten Herrscher, der von Zorn, Rache und Vergeltung angetrieben wird. Seine überwältigend gut interpretierte Sterbeszene und seine überschäumend klagende Wut-Arien sind hingebungsvoll voller Leidenschaft, das eigene Verlöschen und Vergehen erblickend, gesungen. 

Zärtliche Wehmut umspielen die letzten Seufzer Tamerlanos, in denen er bekennt, besiegt zu sein. Dann kriecht er unter den Leichnam Bajazets, der auf einem Holzgestell im Hintergrund aufgebahrt ist. Alle Protagonisten singen, ja hauchen erst unisono, dann in geteilten Klagestimmen ganz blank ohne Instrumentalbegleitung die finalen, traurig melancholischen Töne des versagten „Lieto fine“. Im Freitod Bajazets bekommen alle ihr eigenes Dasein und die kurze Dauer der eigenen Existenz gespiegelt. Das stockt ihnen den Atem, überlässt sie musikalisch in einer verebbenden Sprachlosigkeit. Ein starker Abgang! Eine eindrückliche, erinnerungswürdige Aufführung von Händels radikalstem, pechschwarzen, bizarren Thriller gleichnamigem Dramma per musica „Tamerlano“. Standing Ovations, langanhaltender Jubel. Bravo! 

Tamerlano: Epilog

Oder schlägt uns unsere Wahrnehmung ein Schnippchen, verselbständigt sich unsere Fantasie, wie es immer passiert, passieren kann bei inspirierenden mehrschichtigen Inszenierungen? Denn, es hätte ja auch ganz anders sein können: Sechs Patienten einer Heilanstalt spielen „Tamerlano“, sechs Wärter ihre weißen Kittel hängen akkurat vor jedem Zimmer an einem Haken. Die Black Box seit Beginn der Show, eine beengende Atmosphäre ausströmend, beherbergt auch diese weiß gepuderten Seelenwächter aller „Tamerlano“-Interpreten. Wir blicken in die Wahnvorstellungen Andronicos, dessen Liebesbesessenheit irre Traumbilder gebiert: Asteria als Nymphomanin, die sich mit Tamerlano und Wächtern auf einer Couch im Hintergrund räkelt, umflutet von psychedelischem lila Licht. Real oder Traum? Der Despot Tamerlano wird mit einer Spritze ruhiggestellt. Andronico, Tamerlanos Vertrauter, trägt nach seinem Bekenntnis zu Asteria – er ist aus Liebe zum Feind übergelaufen – einen weißen Kaftan, dessen lange Ärmel auch zu einer Zwangsjacke gehören könnten. Asteria oder Hysteria? Gleicht in ihrem weißen Kleiderwerk der ertrunkenen Ophelia oder der schlafwandelnden Lucia di Lammermoor, einer Figur aus dem Zeitalter, als Frauenzimmer-Wahnsinn und Wahnsinns-Frauen in den Opern en vogue waren. Bajazet legt in Ketten und Lumpen gehüllt eine an Shakespeares König Lear erinnernde Bravour-Sterbeszene hin. Realität, Traum und Fantasie vermögen Allianzen zu schließen. Händels Musik speist und nährt diese. 

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„Tamerlano“ in Göttingen: Mad, Crazy, Real?

A dark chamber of the soul unfolds in Göttingen’s staging of Handel’s Tamerlano: In a glossy black box with mirrored doors, hatred, desire, and a yearning for death collide. Director Rosetta Cucchi crafts a psychological power play in a timeless present. Bajazet, Tamerlano, and Asteria move like haunted figures through this emotional labyrinth.

Claudia Pernigotti’s costumes recall both historical and pop icons—Tamerlano evokes Danton and Karl Lagerfeld. Cucchi’s direction turns the opera into a psychological drama, carried by the expressively nuanced festival orchestra under George Petrou.

Louise Kemény, Yuriy Mynenko, and Juan Sancho shine vocally and dramatically—Sancho especially in a fierce death scene. There is no redemption in the end, only musical silence: an echo of existential helplessness. Or was it all madness? The epilogue suggests a psychiatric setting. Reality and fantasy blur. Handel’s music feeds this nightmare. Standing ovations.

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