Von Barbara Hoppe.
Kürzlich stellte ein Autor einer befreundeten Literaturrezensentin und mir die Frage, inwieweit das Wissen um den Autor die Wahrnehmung des Textes und die anschließende Rezension beeinflusse bzw. ob ein Wissen um den Autor überhaupt notwendig sei, um eine vernünftige Literaturkritik zu schreiben. Meine Kollegin, eine Ethnologin, befand es als extrem wichtig, denn der biographische Hintergrund vor allem bei Autoren, die im Exil lebten oder aus schwierigen gesellschaftlichen Verhältnissen kämen, würde sich auf den Inhalt auswirken und ihn erklären. Ich hingegen, Literaturwissenschaftlerin, würde am liebsten jeden Text zunächst ohne Wissen um den Autor lesen. Der reine Text als Kunst, ohne anderweitige Einflüsse.
Wie sehr dieses Thema ein Dilemma sein kann und mitunter spannender als der eigentliche Roman ist, zeigt sich aktuell bei „An den Mauern des Paradieses“ von Martin Schneitewind. Herausgeber Michael Köhlmeier und sein Freund und Übersetzer des Textes Raoul Schrott nähren eine Entdeckungsgeschichte, bei der beide mit gänzlich unterschiedlichem Wissen um die Umstände, die zu dem Buch führten, zum selben Ergebnis kamen: Vor ihnen liegt ein Meisterwerk. Oder haben wir es hier nur mit einem meisterhaften Mythos zu tun?
Martin Schneitewind, der 2009 im Alter von 64 Jahren gestorben sein soll, schrieb an seinem einzigen Roman ein Leben lang, heißt es im Nachwort Martin Köhlmeiers. Ende der sechziger Jahre soll er in Mailand auf den berühmte italienischen Autor Dino Buzzati getroffen sein, der, erheblich älter als Schneitewind, in einer Schreibkrise steckte. Aus der Bekanntschaft, so Köhlmeier, entwickelte sich eine literarisch kreative Freundschaft. Der Italiener begann wieder zu schreiben und Martin Schneitewind verbesserte, lektorierte und erschuf Neues aus dem Text des Freundes. Sein Glaube, bald ein gemeinsames Buch zu veröffentlichen, wurde enttäuscht. Der Verlag wollte Buzzati und keinen Schneitewind. Letzterer wusste sich nicht anders zu helfen als das Manuskript zu stehlen und gut zu verstecken. Buzzati war aus dem Rennen. Schneitewind schrieb es neu auf Französisch und gab es seiner Frau. Nach seinem Tod, so die Legende der Entdeckung, erhielt es Michael Köhlmeier über die Witwe. Nicht gerade begeistert ließ er sich überreden, einen Blick in das Manuskript zu werfen. Er kannte Witwe wie Verstorbenen aus vergangenen und verdrängten WG-Zeiten, die nicht in guter Erinnerung geblieben waren. Da der Text allerdings auf Französisch war, was Köhlmeier nicht beherrschte, bat er seinen Freund Raoul Schrott um eine Übersetzung der ersten Seiten. Dieser, unvoreingenommen, war von dem Text begeistert. Auch Michael Köhlmeier zollte dem Werk trotz aller vorherigen Skepsis höchste Anerkennung. Das Projekt „An den Mauern des Paradieses“ war geboren.
Zweifellos ist eine solche Entstehungsgeschichte eine hervorragende Marketingmethode, was im Feuerwerk der vielen Neuerscheinungen auf dem Buchmarkt auch erlaubt sein darf. Auch wenn sie in dieser Ausführlichkeit hochgradig irritiert. Sie ist, genau genommen völlig irrelevant für das Verständnis der Lektüre, erzählt sie doch eher Belangloses aus einer vermeintlich gemeinsamen Vergangenheit, in der Martin Schneitewind nicht gut wegkommt. Spätestens im Nachwort fängt der geneigte Leser an zu grübeln. Irgendetwas stimmt hier nicht. Aber auch ohne diese Vorgeschichte oder – genau genommen Nachwort – wird klar: „An den Mauern des Paradieses“ ist tatsächlich ein außergewöhnliches Buch.
Beunruhigend ist das Setting in einer eigenartigen Zukunft „nach der großen Krise“, in der Probleme von heute zu einer mittleren Katastrophe geführt haben: die Erdölvorhaben sind geschrumpft, die ehemals reichen Ölstaaten sind Ruinenstädte und die Klimakatastrophe ist Realität geworden, was zu Flüchtlingswellen führt, vor denen sich reiche Staaten und Städte durch Mauern zu schützen versuchen. Als gemeinsame Sprache herrscht Esperanto vor. Religionen sind auf die Elemente zurückgeführt, die allen gemeinsam sind, um niemanden in seinen religiösen Gefühlen zu verletzen. Mitten in diesem Szenario gibt es einen fiktiven Staat mit einer Militärdiktatur, der auf der Entstehungsgeschichte der Menschheit sitzt und irgendwo in der Geschichte eine andere Abzweigung als der Rest der Welt genommen zu haben scheint, sichtbar an den Zeppelinen, die statt Flugzeugen am Himmel schweben.
Doch worum geht es nun? David Ostrich, Orientalist aus Toronto, reist an den Persischen Golf in die Stadt Damman. Hier, wo ein großer Staudamm gebaut wird, fand man alte Tontafeln, die eine neue Deutung der Schöpfungsgeschichte zulassen. Um an die Fundstelle vorgelassen zu werden, muss der junge Mann jedoch zusagen, gleichzeitig nach der Tochter des Herrschers Thaut zu forschen, die verschwunden ist. Ahnungslos und naiv gerät Ostrich damit immer mehr in die Machenschaften einer brutalen Diktatur.
Wer sich nicht verunsichern lässt und mit der Lektüre beginnt, wird hineingezogen in eine irrwitzige Geschichte, die einen mitunter verzweifeln lässt, denn nicht jeder kennt sich in den diversen Schöpfungsgeschichten und –mythen aus, um die Auslegungen und Verschachtelungen des Romans zu verstehen. Dabei findet der Autor trotz langer, bisweilen ermüdender, Auslassungen über die Genesis ebenso wie über ingenieurtechnische Meisterleistungen beim Bau des Staudamms eine Sprache, die lange nachwirkt. Im Ton wissenschaftlich-sachlich wird die Geschichte durch zahlreiche Dialoge vorangetrieben. Dass dabei immer wieder Falsch-Wahr-Logikspiele eingestreut werden, erzeugt regelmäßig weitere Irritationen beim Lesen, die gleichzeitig faszinieren. Zwei unterschiedlichen Berichtsformen, offenbar vom selben Verfasser, macht es dem Leser nicht leichter.
Am Ende bleibt nur, sich in diesen Strudel hineinziehen zu lassen, in dem man das Unerklärliche, Aberwitzige und Genialkonstruierte einfach hinnehmen und sich hinwegtragen lassen muss.
Martin Schneitewind
An den Mauern des Paradieses
Herausgegeben von Michael Köhlmeier
Übersetzt von Raoul Schrott
dtv, Frankfurt/Main 2019
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