Rezension von Barbara Hoppe.
Ein namenloser Soldat auf einem Wachturm an einer namenlosen Grenze nahe einem namenlosen Dorf. Zwölf Stunden muss er hier, in einer kalten, windigen und regnerischen Nacht ausharren. Den Grenzzaun soll er bewachen, „Nachdem zum ersten Mal eine Politikerin davon geredet hatte, dass man notfalls auch von der Schusswaffe Gebrauch machen sollte, und nachdem eine andere Politikerin sogar Schüsse auf Frauen und Kinder in bestimmten Situationen für gerechtfertigt hielt, war eine Welle der Entrüstung durch das Land gelaufen – aber nicht lange. Die Welle ebbte ab, zerschellte an Hass und Häme, an den Zäunen und Mauern an den Grenzen wie die Brandung am Kai, verpuffte, und mehr und mehr Menschen schienen der Überzeugung zu sein, dass Grenzen da sind, um geschützt zu werden, notfalls auch mit Gewalt.“ Und so sitzt der namenlose Soldat nun an einer solchen Grenze, um sie zu schützen. Allein, denn eine Grippewelle hat die Kameraden außer Gefecht gesetzt.
Von 19 Uhr bis 7 Uhr morgens harrt der Soldat hier aus, nur mit seinen Gedanken und Gefühlen als Gesellschaft. Mit jedem der zwölf Kapitel zieht uns Gerhard Jäger tiefer hinein in die Abgründe eines Lebens, das durch Liebe, Schuld, Trauer und Verlust geprägt ist. Ein Gedankenstrom, nur unterbrochen durch vereinzelte Geräusche und Schreckminuten in einer langen Nacht einsam auf einem Wachturm. Der Moment, als die Vögel auffliegen, der erschreckte Blick in das Gesicht eines bärtigen Mannes auf der anderen Seite des Zauns. Was ist sein Beruf? Ist das Kind auf seinem Arm sein Sohn? Nervöses Herumtasten am Gewehr. Der Schießbefehl. Der Schluck aus dem Flachmann. Noch eine Zigarette. Und immer wieder der Blick in die Hefte der Großmutter. Schon im Gehen begriffen, hatte sie dem Enkel ihre handgeschriebenen Erinnerungen in die Hand gedrückt. Sie, die fliehen musste, als die Russen nach Hinterpommern kamen. Geschickt verknüpft Gerhard Jäger Flüchtlingserfahrungen von damals mit denen von heute. Weit auseinander liegen sie nicht. Erschreckend ist nur, was eine nahe, unbestimmte Zukunft daraus macht. Denn nun lesen wir sie mit den Augen derer, die andere aufnehmen sollen, während wir gerade noch mit der Großmutter gefiebert haben, ob sie es noch rechtzeitig schafft, bevor die Russen der Familie den Weg abschneiden.
„All die Nacht über uns“ ist ein Roman, der aktueller und zeitloser kaum sein könnte. Liebe, Schmerz, Schuld, Menschlichkeit und Unmenschlichkeit – alles findet hier seinen Platz. Eindringlich in der Sprache, bohrt es sich hinein in unsere Gedanken und Gefühle, rührt in ihnen herum, bis wir nicht mehr entkommen können. Aufgewühlt und traurig lassen Gerhard Jäger und sein einsamer Soldat uns zurück. Was können wir ertragen? Wohin führt uns unser Schicksal? Und wohin geht die Menschlichkeit? Zurecht ist dieses großartige Buch die Shortlist für den Österreichischen Buchpreis 2018 gekommen. Der Autor wurde nicht ausgezeichnet. Er starb überraschend im Alter von 52 Jahren im vergangenen November.
Gerhard Jäger
All die Nacht über uns
Picus Verlag, Wien 2018
Buch kaufen oder nur hineinlesen
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.
Pingback: Der Literatur-Podcast am Sonntag: Gerhard Jäger “All die Nacht über uns” – Feuilletonscout