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Brio des Zeitgenossen: Thielemann über Strauss

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Literatur

Wenigen Kapellmeistern ist es gegeben, ihren Überzeugungen nicht nur mit dem Dirigentenstab, sondern auch mit der Feder Ausdruck zu verleihen. Neben Wilhelm Furtwängler, Sergiu Celibidache und Nikolaus Harnoncourt kann man auch Christian Thielemann zu den dirigierenden Musikschriftstellern rechnen. Nach Studien über Wagner und Beethoven legt er nun eine Monographie über den Festspielmitbegründer vor. Von Stephan Reimertz.

Wie schon in seinem Brevier Leben mit Wagner ist es Thielemann mit „Strauss. Ein Zeitgenosse.“ gelungen, mit seiner bestechenden musikschriftstellerischen Gabe seine vielseitige Erfahrung als Musiker in Worte zu fassen und beides in den Dienst des Verständnisses eines Komponisten zu stellen. Die wenigsten Musikanten können das Ergebnis ihrer Analyse in musikalisches Geschehen und in Worte umsetzen. In der Regel ist ein Berufsmusikant einem kognitiv verheerenden Prozess ausgesetzt. So sehr das Quartettspiel oder die Konzertreife am Klavier aus einem Manager, Rechtsanwalt oder Arzt einen noch besseren Manager, Rechtsanwalt oder Arzt macht; sobald er ins Stadium des Berufsmusikantentums eintritt, beginn ein entgegengesetzter Prozess sein Zerstörungswerk. Die Musik frisst das Gehirn auf.

Künstler, nicht nur Kapellmeister

Dem romantischen Ideal des genialischen Künstlers, der sich selbst entgrenzt, steht die traurige Realität vieler Berufsmusikanten gegenüber, deren intellektuelle und künstlerische Fähigkeiten durch den Tunnelblick des Betriebes zusammengedrückt und abgewürgt werden. Thielemann ist eine der Ausnahmen, die durch die Musik nicht dümmer, sondern klüger werden. Kapellmeister, die sich anschicken, Wagner, Strauss, Debussy, Schreker und überhaupt Musik von Mitte des neunzehnten bis Mitte des Zwanzigsten Jahrhunderts zu dirigieren, sollten sich darüber im klaren sein, dass in diesem Falle außer hochentwickelten musikalischen Fähigkeiten auch eine umfassende musikwissenschaftliche und kulturhistoriographische Bildung erforderlich ist. Andernfalls klingt der Tannhäuser naiv ausgemalt wie unter Waleri Gergijew 2019 in Bayreuth, oder man hat, wie letztes Jahr in Salzburg, den Eindruck, dass Kapellmeister und Regisseurin gar nicht wissen, wer Jacques Offenbach ist und worum es sich bei Hoffmanns Erzählungen überhaupt handelt. Anders Christian Thielemann: Ziehen Sie den genialen Dirigenten ab, bleibt immer noch der künstlerisch und historisch gebildete Musik- und Kulturexperte. Kenntnis, Einfühlung, Reflexion und die Souveränität, das alles mit einer zugleich Künstler- und Gelehrtenhand zu verbinden. Wie im Falle etwa von Harnoncourt, wenn auch mit vollkommen anderem Schwerpunkt, bedingen und inspirieren sich in derselben Person der Gelehrte und der Musiker gegenseitig.

Eleganz mit Widerhaken

Und er ist immer Pädagoge, ein geduldiger und höflicher Schriftsteller, der seinen Stoff mit jener musikalischen Anmut vorträgt, die er an seinem Komponisten rühmt: »Eleganz und ein unverwechselbares deutsches Brio, schnell, grazil, virtuos. Die Wahrheit erschließt sich in seiner Musik erst auf den zweiten oder dritten Blick. Deshalb ist Strauss modern. Und deshalb ist er für mich bis heute ein Zeitgenosse.«

Christian Thielemann Richard Strauss
Cover: C. H. Beck Verlag

Phantastisch zusammengedacht! Über solche Rezeptions- und Vorstellungskraft muss man schon gebieten, wenn man Strauss hören und wenn man das Hören beschreiben will. Der Autor schreibt aus der Tradition der bildungsbürgerlichen Kulturhistoriographie heraus und grenzt die Lebendigkeit des Künstlers Strauss, jedes Künstlers, gegen die trocken-philiströsen Forderungen linearer Innovation von Seiten der Kunstideologen ab. Mit Schönberg, Berg, Puccini, aber auch mit anderen Komponisten setzt der Autor sich am Rande auseinander und stellt sie zu Strauss in Beziehung.

Zwischen Genie und Geschmack

Natürlich fasziniert Thielemann »das Glitzernde, Schillernde, leicht Schwebende« in Straussens Musik. Für den unbefangenen Hörer freilich bleibt erstaunlich, ja oft erschreckend, wie nah bei diesem Komponisten das Aufgeblasen-Geschmacklose, Kleinkarierte neben Ausbrüchen des musikalischen Genies liegt. Hier allerdings schreibt ein Musikant über den anderen. Thielemann dankt Strauss zahlreiche seiner großen Erfolge, daher ist die durchweg positive Beleuchtung, die er ihm zuteil werden lässt, nachvollziehbar. Die Art und Weise, in der Strauss mit seinen schon nicht mehr so ganz jugendlichen »Tondichtungen« mit einer in vielerlei Hinsicht aufgeblasenen Musik den Hörer übertölpelt, ist dann doch erstaunlich. Vielmehr noch, dass einzelne Werke wie der Rosenkavalier insgesamt schwer erträglich sind, dann aber über Stellen raffaelischer Schönheit verfügen, die Mozart hätte schreiben können, wäre er im zwanzigsten Jahrhundert zur Welt gekommen: wie die »italienische« Arie, das Duett Ochs-Mariandl, das Überreichen der Rose und das Schlussquartett. Man wünschte sich, Thielemann hätte ein Buch für seine Künstler- und Musikantenkollegen geschrieben. Was er vorlegt, ist hingegen ein bisweilen apologetisches Buch für sein Abonnentenpublikum. Dennoch bringt diese profunde Abhandlung viele Einsichten, die kein gewöhnlicher Musikschriftsteller, die nur ein ausübender Musiker vermitteln kann.

Widerspruch als Erkenntnisform

Zu zwei Gedanken Thielemanns möchte ich hier noch etwas anmerken. Leider befinde ich mich gerade auf dem Land und habe keine Literatur greifbar, finde auch nichts dazu im Internet, aber ich glaube doch, dass Strauss eine Aufführung des Wozzeck  unter Protest verlassen hat, weil er eine motivische Huldigung, die der Komponist Alban Berg an Strauss anbrachte, in den falschen Hals bekam. Zum zweiten spricht Thielemann Strauss von jedem Antisemitismus frei. Meine Ersatzgroßmutter Christiane, die Tochter Hofmannsthals, erzählte mir hingegen, dass Straussens Antisemitismus damals sprichwörtlich gewesen sei. Erst als sein Sohn eine jüdische Frau namens Grab heiratete, habe man gesagt: Der Strauss hat seinen Antisemitismus zu Grab getragen!

Christian ThielemannStrauss. Ein Zeitgenosse.
C.H. Beck, München 2024bei amazon
bei Thalia

Was das Buch besonders macht:

  • Musikalische Analyse mit kulturhistorischer Tiefe
  • Strauss als Zeitgenosse neu interpretiert
  • Künstlerische Reflexion statt Dirigentenroutine

Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.

The brio of the contemporary: Thielemann on Strauss

Christian Thielemann is one of the few conductors who reflect musical experience in writing. After Wagner and Beethoven, he now turns to Richard Strauss—not only as a conductor but as a music essayist. His new monograph blends analytical depth with artistic insight, interpreting Strauss’s sound world with elegance and brio.

Thielemann explores the intellectual challenges of professional musicianship and stands out as one who grows wiser through music. His critique of superficial performance practices is sharp, his cultural-historical perspective profound. Strauss emerges as a dazzling composer whose works oscillate between genius and poor taste—yet contain moments of Mozartian beauty.

Thielemann’s book is not dry analysis but a vivid contribution to Strauss reception. It’s aimed less at musicians than at an engaged audience, yet remains intellectually rich. Personal anecdotes and critical reflections—on Strauss’s reception and alleged antisemitism—complete the portrait.

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