Von Birgit Koß.
Klein aber sehr fein sind die Romane von Roswitha Quadflieg. In Zürich geboren, wuchs sie in Hamburg auf und gründete dort 1973 die Raamin Presse. Hier gestaltete sie Werke der Weltliteratur sehr speziell mit eigenen Originalgrafiken und druckte vielfach preisgekrönte limitierte Auflagen. Dreißig Jahre später schloss Roswitha Quadflieg die Tore und ist seitdem ausschließlich Autorin von Romanen, Theaterstücken, Hörspielen und Drehbüchern. Seit 2012 lebt sie in Berlin. Im letzten Herbst ist ihr achtzehnter Titel „Ein Mann seiner Zeit“ erschienen.
Auf nur 153 Seiten erzählt sie nicht nur die fast komplette Lebensgeschichte ihres Protagonisten, sondern lässt ihn auch sein sozialpolitisches Engagement vehement vertreten. Der Ich-Erzähler Paul Gärtner ist nach langer Krankheit ein Pflegefall, an den Rollstuhl gefesselt. Schon lange kämpft er für das Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben und aktive Sterbehilfe. Nun, im Jahr 2020, nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf Sterbehilfe, geht sein Kampf mit Hilfe eines Anwalts weiter für die Freigabe von Natrium-Pentobarbital. Mit diesem Medikament, das bisher nur Tierärzte verschreiben dürfen, sieht er die Möglichkeit, wirklich selbstbestimmt und würdevoll das eigene Leben zu beenden.
Der Roman beginnt am 23. August 2020. Paul Gärtner beschließt, seine Lebensgeschichte in einer Woche auf Tonband aufzunehmen. Mit diesem Kunstkniff gelingt es der Autorin nicht nur das ganze Leben von Paul, der 1945 geboren wurde, zu verdichten und in Vor- und Rückblenden zu erzählen, sondern der Erzähler reflektiert auch immer wieder über seinen Familie, seine eigene Entwicklung und Haltung. Wir erfahren etwas über die Nazivergangenheit der Eltern, das rigide Erziehungssystem in den 50er-Jahren, die Studentenbewegung und sein persönliches Engagement als Erzieher, der gern gegen bestehende Normen verstößt – immer im Sinne der ihm anvertrauten Jugendlichen. Erst im Alter von 60 Jahre erfährt Paul, dass er einen Sohn in den USA hat mit weitreichenden Folgen und noch später heiratet er Ayla, damit die Afghanin in seinem Haus in Norddeutschland leben darf.
Zwischen diesen Puzzlesteinen seines Lebens taucht sein Alltag als Schwerbehinderter auf mit seiner Pflegerin Irene für Vormittags und abends Kuno, mit dem er gern eine Runde Tischfußball spielt. Erst auf den letzten sieben Seiten nimmt die Geschichte noch eine unerwartete Wendung und Paul kann wieder selbstbestimmt leben.
Roswitha Quadflieg zeichnet in ihrer klaren prägnanten Sprache ein lebhaftes und sehr buntes Bild vom Lebensweg ihres Protagonisten, der sicher nicht zufällig ein Zeitgenosse und im realen Leben ein Freund der Autorin ist. Sie legt den Finger in die Wunder der deutschen Nachkriegsentwicklung, bei der so häufig weggesehen wurde, und lässt Paul Gärtner immer wieder dagegen Stellung beziehen. Außerdem rückt sie das Thema Sterbehilfe nachdrücklich in den Fokus, das nach wie vor sehr umstritten ist und zu keinen problemlosen Lösungen führt.
Der Roman ist im Buchhandel und online erhältlich, auch wenn der Verlag Faber& Faber inzwischen Insolvenz angemeldet hat. Für die Autorin heißt das, die Lesereisen, die normalerweise Romane bekannt machen und auch zu Einnahmen führen, entfallen und die Verkaufserlöse fallen in die Insolvenzmasse. So ein Schicksal hat kein Autor und kein Buch verdient – besonders nicht dieser erhellende Roman, der dazu auffordert, einen eigenen Standpunkt zu finden – ein Roman seiner – oder besser- unserer Zeit.
Lesungen:
Donnerstag, 02.05.2024, 18.00 Uhr
DGHS-Geschäftsstelle, Konferenzraum
Mühlenstr. 20, Eingang über Mildred-Harnack-Straße, 10243 Berlin
Anmeldung erforderlich unter: presse@dghs.de
Donnerstag, 23. Mai 2024, 19.30 Uhr
Brotfabrik Berlin, Caligariplatz 1, 13086 Berlin
Roswitha Quadflieg
Ein Mann seiner Zeit
Faber &Faber, Leipzig 2023
bei amazon
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„A man of his time“ by Roswitha Quadflieg
Roswitha Quadflieg’s novels may be small, but they are extremely fine. Born in Zurich and raised in Hamburg, she founded the Raamin Presse in 1973, where she designed works of world literature with her own original graphics. After thirty years as a publisher, she devoted herself exclusively to writing novels, plays, radio plays, and screenplays. Her eighteenth novel, „A Man of His Time,“ was released last autumn, narrating the life story of the protagonist Paul Gärtner, who advocates for the right to die with dignity. The novel spans 153 pages and begins in 2020 when Gärtner decides to record his life story on tape. Through skillful flashbacks, the narrator reflects on his life, family, and stance on various societal issues such as Nazi history, the education system of the 1950s, and euthanasia. Quadflieg vividly depicts Gärtner’s life journey and also addresses the post-war development in Germany and the controversy surrounding euthanasia. Despite the insolvency of the publisher Faber & Faber, the novel is available both in bookstores and online.