Rezension von Stefan Pieper.
Für Bruce Wadsworth geht ein Traum in Erfüllung: Am 21.9. kommt die von ihm übersetzte Lyrik des mittelalterlichen englischen Dichters Geoffrey Chaucer (ca. 1340-1400) in einer musikalischen Rezitation auf die Bühne. Thomas Gimbel, Regisseur und Schauspielere wird, wird der pointierten Schreibkunst Chauccers eine starke Stimme im Hier und Jetzt verleihen – spektakulärer dürfte auch die musikalische „Umrahmung“ der Rezitationen sein: The Gothic Voices, eines der international profiliertesten Vocalenseblemes ist seit über 30 Jahren weltweit bekannt für seine exzellenten Interpretationen mittelalterlicher Vokalmusik.
Catherine King, Mezzosopran, Steven Harrold, Tenor, Julian Podger, Tenor, Stephen Charlesworth, Bariton nehmen sich im Theater der Stadt Marl sehr unterschiedlichen Liedern, Hymnen und Cansons aus dem 14. Jahrhundert an, bei denen die Überlieferungsgeschichte ebenso ein Mysterium ist wie auch die Autorenschaft der meist lateinisch und französischsprachigen Lieder. Auf jeden Fall bietet allein der musikalische Teil dieses Abends genug unerhörte Entdeckungen.
Georffrey Chaucers „Canterbury Tales“ bestechen durch ihren scharfsinnigen, manchmal fast modernen Blickwinkel, der meist aufs Diesseits und das menschlich, allzu menschliche gerichtet ist. Sie enthalten eine große Bandbreite von literarischen Formen, Themen und Gattungen, offenbaren ein bunt schillerndes Sittengemälde von den Menschen in dieser Zeit, wo auch die antiklerikale Satire der Kirchenbüttel nicht zu kurz kommt. Den Rahmen der Erzählungen bildet eine Pilgerfahrt nach Canterbury, auf welcher Chaucer Teil einer Gruppe von 29 Pilgern wird, die auf Wallfahrt nach Canterbury sind.
Im „Allgemeinen Prolog“ der Canterbury Tales porträtiert Chaucer die Pilger mit feiner Ironie und scharfem Blick. Er gibt dort einen Vorgeschmack seiner darstellerischen Vielfalt in einer unterhaltsamen Folge von Pilgerportraits. Der Ritter, den Chaucer zuerst vorstellt, wird eher indirekt durch die weitläufigen exotischen Schauplätze seiner Reisen und Kämpfe dargestellt. Trotz seiner Wehrhaftigkeit ist er „so sanft wie eine Maid“. Zum Kontrast zeigt Chaucers Bild der rührseligen Priorin Eglentyn den Dichter in bester satirischer Form: sie pflegt aristokratische Tischmanieren, verwöhnt ihre Schoßhunde mit feinem Brot und weint schon „wenn sie eine Maus in einer Falle sieht“. Hingegen zeichnet Chaucer in der Frau von Bath eine Persönlichkeit, die allen üblichen Vorstellungen über mittelalterliche Frauen zuwiderläuft. Sie ist sinnlich, aufmüpfig, vertritt feministische Gedanken und ist dazu noch eine erfolgreiche Geschäftsfrau. Unter allen Pilgerportraits ist wohl die Darstellung des Dorfpriesters die bewegendste und wortgewaltigste. Das Porträt des Ablasskrämers, mit dem die Galerie der Pilger endet, ist ein Höhepunkt an Widerwärtigkeit: eitel und korrupt, nennt der Dichter ihn sarkastisch einen „wunderbaren Kirchenmann“. Die Pilger verdeutlichen, dass die Menschen des Mittelalters uns näher sind, als wir denken: Die meisten Pilger sind alles andere als naiv und unkritisch in ihrer Einstellung der Kirche gegenüber. In ihren Leidenschaften und ihrer Vergnügungssucht, in ihrer Zerrissenheit und ihrer Suche nach Heil sind sie uns eng verwandt.
Der amerikanische Germanist und Anglist Bruce Wadsworth hat mit der Übersetzung der Chaucer-Texte eine Pionierleistung vollbracht: Zum ersten Mal sind diese erstaunlichen literarischen Zeugnisse einem deutschsprachigen Publikum zugänglich. Chaucers zündender Witz bleibt durch die bewusst poetisch gehaltenen Übertragungen erhalten, bzw. lebt für ein Publikum, welches dem Mittelenglischen nicht gewachsen ist, erst so richtig auf. Dafür stehen mit Thomas Gimbel und den Gothic Voices am 21.9. im Marler Theater die denkbar besten Vermittler bereit!
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