Eine Satire von Stephan Reimertz.
Immer mehr Unmusikalische wollen sich gern ihre eigene Mahler-Symphonie komponieren. Schließlich hat Gustav Mahler sich auch seine eigenen unmusikalischen Kracher fabriziert. Lesen Sie hier sieben Maßnahmen, in denen Ihnen Stephan Reimertz erklärt, wie Sie den ganz großen Sound heraushauen und sowohl erschöpfte Hausfrauen als auch bebrillte Akademiker von Ihrer Größe überzeugen können. If Gustav can do it, you can do it!
I
Die richtige Partiturgröße
Von einem Schreibwarengeschäft meiner Wahl lasse ich mir eine Handpartitur anfertigen, deren Größe dem geistigen Format einer Mahler-Symphonie angemessen ist. Mannshöhe ist Mindestmaß; für etwa zweihundert Notensysteme, damit ich alle Instrumentengruppen bei Bedarf zwanzigfach teilen kann. Zwanzig verschiedene Triangeln gehören ebenso zur Grundausstattung meiner Big Band wie zwanzig verschiedene Kuhglocken, damit die Stadt Wien mein Österreichertum eines Tages mit einem Ehrengrab auf dem Zentralfriedhof belohnt; natürlich auch zwanzig verschiedene Holzhämmer, auf dass die Nibelungen mit ihren lächerlichen vier Ambossen vor Neid erblassen. Überhaupt schaue ich mir Wagners Partituren genau an und setze immer noch eins drauf: nicht an musikalischem Gehalt, sondern an Lärm. Nur so kommt der – zwar nicht polyphone, aber polymorph-perverse – Mahlersche Vollklang zustande.
II
Exposition = Explosition
In ihren bisherigen bedauernswerten Jahrtausenden hat die Menschheit darum gerungen, Gehalt und Form ihrer künstlerischen Erzeugnisse in ein angemessenes Verhältnis zu setzen. Solch kleinkariertes Ausbalancieren lasse ich hinter mir und begebe mich mit Schwung auf das Terrain der musikalischen Hochstapelei. Ich quäke ein banales, z. T. auch kindisches Themenmaterial heraus und lasse dann meine riesige Orchesterwalze drüberfahren. Die Expositionen meiner Symphoniesätze sehen aus wie eine riesige aufgeblasene Mickymaus am Rande amerikanischer Städte. Schließlich hat ja auch der Blecherne Gustav große Teile seiner Symphonien in den Vereinigten Staaten komponiert. Rührt die Cartoonhaftigkeit seiner Musik (»Boa!« »Boing!« »Krach!« »Piep!« »Zirp!« »Ratter!«) daher? Gelingt es mir, mich vom kompositorischen Felix Krull vollends zum musikalischen Zauberlehrling aufzuschwingen, und sitzt der Zuhörer da wie ein begossener Pudel, dem aus allen Schläuchen die musikalischen Ergüsse auf den Kopf platschen, weiß ich, dass ich ein großer Mann bin.
III
Großzügig mit Zeit und Ewigkeit des Zuhörers umgehen
Dauerten Symphonien im Zeitalter solcher Anfänger wie Haydn und Mozart höchstens fünfzehn bis zwanzig Minuten, kam selbst Beethoven schlimmstenfalls mit einer Dreiviertelstunde aus, strecke ich mein symphonisches Gebilde mit musikalischer Leere, wie im Zweiten Weltkrieg Ersatzkaffee mit Klowasser gestreckt wurde. Auch die flüchtigen Episoden der symphonischen Kurzgebilde von Schumann, Dvořák und Bruckner lasse ich weit hinter mir. Schuberts himmlische Längen erweitere ich zu höllischen Ewigkeiten, eschatologische Trompetenklänge und andere Anspielungen mit dem Holzhammer auf das Jüngste Gericht inbegriffen. Durch die mahlerischen Klänge dieser Artillerie erfahren wir, woher die Redensart »Du redest Blech!« kommt. Trotz der Länge kann sich mein thematisches Material nicht entfalten, da ich noch nie etwas von Sonatenhauptsatzform oder Durchführung gehört habe. Ich kleistere die Themen schlichtweg potpourrihaft aneinander und wiederhole sie bis zum Geht-nicht-mehr. Je mehr der Zuhörer der musikalischen Tradition entfremdet wird, desto eher spricht er meiner Übermusik zu. Am Ende ist er vollkommen erschossen und hält dies für musikalische Erschütterung. Meine Symphonien gelten im Ausland als Inbegriff germanischer Melancholie. Ich bin sozusagen der musikalische Anselm Kiefer. Und wie bei dessen Kunstwerken steht der Betrachter bei des Kaisers neue Symphonien am Ende vor einem Trümmerhaufen.
IV
Die Schwierigkeiten allzu idealer Bedingungen meistern
Bei Ikea hole ich mir den Bausatz einer Hütte für Gartengeräte und baue sie mir als Komponierhäuschen irgendwo in Österreich am Waldrand zusammen. Leider zeigt die Erfahrung, dass einem zwischen den Zeitungslesern in der Lounge der Austrian Airlines oder an der Bushaltestelle mehr einfällt als unter solch idealen Bedingungen in der Natur. Um dies zu überspielen, ahme ich im Orchester halt Vogelstimmen nach. In dem Gegensatz zwischen dem süßen Vogerlstimmchen hier und da und der Elephantasis des Ganzen schaffe ich mir meinen eigenen musikalischen Zoo. Was bei Haydn die Schöpfung war, ist bei mir die Erschöpfung. Oder ich erinnere mich an Lieder und Kanons von meinem oberösterreichischen Aupairmädchen wie Bruder Jakob.
V
Dem Kind einen Namen geben
Habe ich mein antimusikalisches Potpourri zusammengekleistert, schrecke ich selbst vor seiner Banalität zurück oder liege, wenn ich meine Partitur dann lese, vor Lachen auf dem – in Österreich: »am« – Boden, verleihe ich dem Ganzen, um den Zuhörer, vor allem aber mich selbst von der offensichtlichen Trivialität abzulenken, einen pompösen Namen wie Symphonie der Tausend. Bei »Tausend« denke ich bereits an die vielen Tausender, die mir mein Werk in die Kasse spülen wird. Um dem suggestiven Zahlwort gerecht zu werden, stocke ich im übrigen Chor und Orchester gleich noch einmal auf. Die Musik selbst pocht auf den Erfolg. Mein unfriendly takeover der musikalischen Tradition ist die Kunst der Investmentbanker. Geld scheffeln ist auch eine Kunst. Vincent van Gogh hat sie nicht beherrscht, darum ist er auch kein Künstler. Dem Kapitalismus meiner Musik zum Trotz mache ich mich aber auch bei den Gewerkschaften beliebt, biete ich doch zahllose Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen für arbeitslose Musikanten. Wie in den Betrieben kommunistischer Staaten gibt es in meinem Orchester eine Mehrheit überflüssig Beschäftigter.
VI
Fürs Feuilleton komponieren heißt feuilletonistisch komponieren
Um dem unmusikalischen Feuilleton zu gefallen, schreibe ich feuilletonistische Unmusik. Da ich es bei meinen Zuhörern vor allem mit erschöpften Hausfrauen zu tun habe, wähle ich selbst wie ein Koch klug die Ingredienzien zu meinen Machwerken aus. Bereits ziemlich abgeschmackte »Tondichtungen« wie Tod und Verklärung oder Till Eulenspiegels lustige Streiche von Richard Strauss lasse ich weit hinter mir und werde vom Tondichter zum Tonmahler. Ich spiele mit den Durchschnittsköpfen meiner Zuhörer, indem ich regelmäßig Triller einbaue, die sie an den Mainzer Karneval erinnern und stelle so schon einmal ein gewisses Niveau von Zufriedenheit her. Wenn ich aber ein schönes, einfaches Gedicht aus des Knaben Wunderhorn oder auch von Nietzsche sehe, bekomme ich sofort den Tante-Eleonore-Komplex. Diese meine Großtante pflegte nämlich auf ein Stück Kuchen soviel Schlagobers zu klatschen, dass man den Kuchen darunter nicht mehr sah. Ebenso mache ich es mit den Gedichten. Ich ersticke sie in meiner Vertonung mit einem riesigen Orchesterapparat und ziehe sie in die Länge wie einen ausgezogenen Apfelstrudel. Außerdem erfinde ich neue Tempobezeichnungen wie »Adagietto« oder »Adagissimo«, die Besucherinnen der Parfumabteilung im Kaufhof einleuchten. Für die zwischen Prada und Louis Vuitton zerrissenen Seelen des Konsumzeitalters schaffe ich so die einzige Möglichkeit, Gedichte überhaupt kennenzulernen, da es äußerst uncool ist, sich hinzusetzen und ein Buch aufzuschlagen. Allein mir in meiner Mahlerei gelingt es noch, Leute, die auf Krawall gestimmt sind, stundenlang auf ihren Sesseln festzunageln. Da ich mit meinen endlosen Wiederholungen den Überdruss von Anfang an in meine Sumpfonie einbaue, und da ich darauf vertrauen kann, dass sich niemand mit meinen Krachern kritisch auseinandersetzt, walze ich den abgestumpften Konsumenten mit meiner musikalischen Monsterwaffe innerhalb von anderthalb Stunden völlig platt. Eigentlich müsste ihm der Lärm zu den Ohren herauskommen. Doch in meinem Katastrophenszenario gebe ich ihm die Möglichkeit, sich endlos in seinem eigenen Weltschmerz zu baden. Früher war die narzisstische Persönlichkeitsstörung eine Erkrankung. Heute ist sie eine Kompositionsmethode. In beiden Fällen leidet die Umwelt mehr als der Betroffene selbst. Kiefer und Mahler, die beiden teuersten Rohrkrepierer der Kunstgeschichte, haben den Menschen echter Musik ebenso entwöhnt wie echter Kunst, um sie Propaganda und Gehirnwäsche zugänglicher zu machen.
VII
Den Nachruhm vorprogrammieren
Ich suche mir ein antisemitisches Pummelchen aus der Wiener Gesellschaft, heirate es und bringe in meinen Partituren neckische Bemerkungen für dasselbe an. Ich gehe davon aus, dass die Betriebsnudel mich um Jahrzehnte überleben und als gerngesehene Komiteedame in der New Yorker Gesellschaft die Erinnerung an mein Werk wachhalten wird. Da ich regelmäßig in den USA in der Sommerfrische bin, suche ich mir dort einen Taktschläger aus dem Varieté mit I Like Mahler-T-Shirt, der mehrere Gesamteinspielungen meiner Symphonien aufnimmt. Bei Dirigenten ist mein Werk beliebt, gebe ich dem Herrn Kapellmeister doch die Gelegenheit, sich als General in der Schlacht zu gerieren und in Personalunion Apostel Paulus und General Paulus zu sein. Jetzt brauche ich nur noch auf Hollywood zu warten, wo meine Kompositionen gern als Filmmusik hergenommen und bald schon Streifen über mein Leben gedreht werden. Schon Gustav Mahler schrieb ja Filmmusik für ein zu seiner Zeit noch gar nicht bestehendes Kino und den Soundtrack für eine noch nicht vorhandene Gesellschaft der inneren Leere. Kleiner Anlass – großes Gedöns! Damit haben wir das Inbild der Westlichen Gesellschaften von heute. Bekanntlich schwappt alles Schwabblige aus den USA früher oder später nach Europa über. Die Banausen machen den Barbaren alles nach.
Auf dem alten Kontinent freilich muss ich auch an die akademischen Kreise denken. Ich suche mir einen glatzköpfigen, bebrillten Musikphilosophen, der eine hochprätentiöse Monographie, pardon: »musikalische Physiognomik« über mich schreibt, um mir auch im akademischen Milieu auf Dauer eine Anhängerschaft zu sichern. Sowohl erschöpfte Hausfrauen als auch bebrillte Akademiker stelle ich gleichzeitig zufrieden, indem ich neben meiner Musik auch Kalendersprüche absondere wie: »Tradition ist Schlamperei.«, oder: »Tradition ist die Weitergabe des Feuers und nicht die Anbetung der Asche.«, oder auch: »Ich weiß für mich, dass ich, solang ich mein Erlebnis in Worten zusammenfassen kann, gewiss keine Musik hierüber machen würde.« Zum Glück halte ich mich selbst nicht an meine eigenen Ratschläge!
Alle Bilder sind von Stephan Reimertz (mit KI).
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.