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Als der Mensch noch Herr des Kapitals war

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Ausstellung

Die Frans-Hals-Retrospektive in der Londoner Nationalgalerie zeigt uns unsere Träume von gestern in triumphalem Gestus. War der Maler aus Antwerpen der größte Porträtist der Kunstgeschichte? Von Stephan Reimertz.

»Das ist ein Mensch, aber nicht der Mensch, das ist „auch“ ein Mensch, aber das genügt nicht«, konnte Max Beckmann einem Studenten sagen, der sich im Porträt übte, so überliefert es seine Schülerin Marie-Louise von Motesiczky. Vom kunsthistorisch bedeutenden Porträt ist doppelter Individualismus gefordert. Der Maler lässt das Modell ganz zu sich kommen und ordnet es doch der eigenen bildnerischen Welt zugleich ein. Die Ähnlichkeit des Portraits steht dabei nicht zur Disposition. Es ist also paradox, will man die Qualität eines Porträtisten beurteilen, wenn man das Modell nicht kennt. Als Filmaufnahmen mit Personen auftauchten, die Beckmann porträtiert hatte, frappierte der genaue Schlag, mit dem er etwa den Freiherrn von Simolin oder seine Frau Quappi in ihren Eigenarten gebannt hatte. Das gelungene Porträt hält Bewegungen in der Bewegungslosigkeit fest. Bei Malern vergangener Zeiten tun wir uns schwerer, wenn wir sie als Porträtisten beurteilen wollen, da wir ihre Modelle bestenfalls aus Skizzen oder Gemälden anderer Maler kennen. Es helfen, wie bei Frans Hals, Lobpreisungen der Zeitgenossen. Im übrigen müssen wir uns mit rein kunsthistorischen Zeugnissen begnügen. Vincent van Gogh gibt uns eine Orientierungshilfe, auf welchem Niveau wir uns hier bewegen: » Frans Hals schilderde portretten: niets niets niets behalve dat«, schrieb er am 30. Juli 1888 aus Arles an Emile Bernard. »Maar ze zijn evenveel waard als Dante’s paradijs en Michelangelo’s en Rafaël’s en zelfs de Grieken.«

Frans Hals / Foto: Stephan Reimertz

Auf dem Höhepunkt des Weltmarkts

Wir befinden uns also in der obersten Kategorie der Kunst, muss auch die Frage der Ähnlichkeit der Porträts zu den Porträtierten im Dunkeln bleiben. Eines aber springt dem heutigen Betrachter ebenso ins Auge wie Halsens Zeitgenossen und all den Bewunderern in vier Jahrhunderten: die Lebendigkeit der Einzel-, Doppel- und Gruppenporträts dieses Malers. In der bedeutendsten Frans-Hals-Retrospektive seit Menschengedenken vereint nun die Londoner Nationalgalerie in Kooperation mit dem Rijksmuseum, Amsterdam, den Staatlichen Museen zu Berlin, dem Frans-Hals-Museum in Haarlem und der Wallace Collection in London in einer noblen und ausgewogenen Ausstellung am Trafalgar Square. Dabei fällt vor allem auf, dass die überquirlende Geschäftigkeit, die vom Weihnachtsmarkt auf dem Trafalgar Square (bei dem noch niemand auf die Idee gekommen ist, ihn in »Wintermarkt« umzutaufen) in die Räume der Nationalgalerie schwappt, vor den hohen und stillen Räumen der Frans-Hals-Retrospektive Halt macht. Die bunte Menge zieht die bunten Bilder vor und versteht nicht, warum man sich eine scheinbar endlose Reihe von schwarzgewandeten Menschen vergangener Zeiten ansehen sollte. Dabei ist die ständige Sammlung der Nationalgalerie bei weitem nicht so bunt, wie sie sein könnte. durch die ewiggleiche perlmutternglänzende Firnis, die allen Gemälden appliziert wird, bekommt das ganze Museum etwas von Kaufhausmonotonie. Bisher konnte sich die Nationalgalerie noch nicht zu modernen Ansichten in Sachen Restaurierung bequemen, wie sie etwa vom Münchner Doerner-Institut vertreten werden, warum die Werke in der Alten Pinakothek auch vielfältiger leuchten.

Der Maler als Regisseur des Lichts

»Het menselijk gezicht is het interessantste deel van de wereld«, sagt ein holländisches Sprichwort. Das Studium der Porträts von Frans Hals bestätigt diesen Grundsatz und belohnt den Betrachter in kurzer Zeit mit Schärfung seines Gesichtssinns. Kein Wunder, wenn manche von Halsens Bildern als Ikonen der Epoche gelten. Da ist der aus seinem schaukelnden Stuhl beinah aus dem Bild herausfallende Handelsmann neben dem drapierten Vorhang, mit dem der Maler eine Probe seine unnachahmlichen Dynamik und Lebendigkeit gibt. Ein zentrales Motiv der von Hals bevorzugten sozialen Schicht holländischer Unternehmer, die in jenen Tagen voller Stolz und Genugtuung auf eine globalisierte Wirtschaft blicken, darin allein von ihren britischen Konkurrenten überboten. Halsens »peinture« verfügt über ein so wiedererkennbares »poncif«, dass einige seine Bilder im Laufe der Jahrhunderte über die Kalendersphäre ihren Weg selbst in die Wohnungen des Proletariats fanden. Ein gutes Beispiel dafür ist jene »bohémienne« genannte junge Dame, bei deren Anblick der Maler als meisterhafter Lichtregisseur unseren Blick unverwandt ins Dekolleté zieht. Die erklärende Tafel in der Nationalgalerie schlägt dabei ulkige Kapriolen der politischen Korrektheit, indem sie den Beruf der jungen Dame, den man in Holland wohl mit »hoertje« umschreiben würde, als »sex worker« angibt.

Ein Dorian Gray von 1645

Frans Hals, de meesterschilder
Was een man met veel talent
Zijn schilderijen zijn beroemd
En worden nog steeds bewonderd

Die selbstbewussten Handelsherren auf Halsens Bildern am Höhepunkt der Kapitalismus stehen in auffälligem Gegensatz zu der geistesgestörten Mickeymauskultur, die uns bis in die Nationalgalerie hinein verfolgt. Das also ist aus der einst triumphalen Wirtschaftsform geworden. Ähnlich wie am Ende der DDR wirft der schrottreife Zustand Englands die Frage auf, ob die Staatsideologie (dort der Sozialismus, hier der Kapitalismus) lediglich falsch angewandt wurde, oder ob in ihr selbst von Anfang an der Wurm stak. In der Welt von Frans Hals am Anfang des siebzehnten Jahrhunderts ist die Kapitalistenaristokratie von des Zweifels Blässe noch ganz unangekränkelt. In der zweiten Generation freilich bildet sich schon eine saturierte Schicht heraus. In dem Porträt des fashionablen Jasper Schade aus der Prager Nationalgalerie erkennen wir einen holländischen Dandy aus der Mitte des siebzehnten Jahrhunderts. Wenn wir diesen verfeinerten Weltmann sehen, schauen wir zugleich in den Spiegel.

The Credit Suisse ExhibitionFrans Hals
Ausstellung noch bis zum 21. Januar 2024

Nationalgalerie London
Trafalgar Square
London WC2N 5DN
tgl. von 10 bis 18 Uhr

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When humanity was still master of capital
The Frans Hals retrospective at the London National Gallery presents the triumphant dreams of days gone by in impressive paintings. The London National Gallery hosts the most significant Frans Hals retrospective in collaboration with renowned museums. The liveliness of Hals‘ individual, double, and group portraits stands out, setting the exhibition apart from the bustling surroundings of Trafalgar Square. The portraits convey a lively stillness, while modern observers prefer the colorful images of the past.

Hals‘ paintings, highly praised by contemporaries like Vincent van Gogh, reside in the highest category of art. The question of similarity to the portrayed individuals remains in the dark, but the liveliness of the portraits is undeniable. The study of Hals‘ portraits sharpens the sense of sight and elevates some of his works to icons of the era.

Hals‘ portraits depict the proud and contented class of Dutch entrepreneurs in the age of globalized economy. The paintings showcase Hals‘ unparalleled dynamism and liveliness. In contrast, there is today’s disturbed culture permeating the National Gallery.

Frans Hals‘ paintings present confident businessmen at the peak of capitalism, a contrast to contemporary culture. The images raise questions about the development of state ideology and illustrate how the once triumphant economic form has deteriorated into a dilapidated state. In Hals‘ world, the capitalist aristocracy remains untouched by doubts, while in the present time, saturation and decay become visible. Hals‘ portraits offer a fascinating glimpse into the 17th-century world, prompting the viewer to simultaneously reflect on themselves.

Ein Gedanke zu „Als der Mensch noch Herr des Kapitals war“

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