Hartmut Lange gehört zu den ganz großen Novellisten unserer Tage. Für alle, die ihn noch nicht kennen wird es höchste Zeit, sein Werk zu entdecken. Von Barbara Hoppe.
Es war wohl sein Leben, das Hartmut Lange dieses Gefühl für Stimmungen und Zwischenwelten mitgab. Als Sohn eines Metzgers und einer Verkäuferin in Berlin-Spandau geboren, wurde die Familie nach Polen umgesiedelt, als er zwei Jahre alt war. Erst 1946 kehrte die Familie zurück nach Berlin. Hartmut Lange machte eine Ausbildung zum Dramaturgen in Potsdam und landete schließlich am Deutschen Theater in Ost-Berlin. 1965 entkam er über Jugoslawien in die Bundesrepublik. Dieser Weg voller Schnörkel und Fallstricke mag seinen Feinsinn geschärft sowie ein Gespür für die Merkwürdigkeiten des Lebens mitgegeben haben. Er selbst nennt es „das Unheimliche“, das ihn seit frühester Kindheit begleitet: Erst die Nazis und der Krieg, dann die DDR-Erfahrung und schließlich die Flucht in eine neue Welt, die zunächst eine Lebens- und Existenzkrise auslöste, bis er zu innerer Ruhe gelangte. Bisweilen schmerzliche Erfahrungen für den Literaten, profitierte Langes Kunst von den Brüchen des Lebens und damit auch wir Leser. Seine Texte gehen unter die Haut, wären sie nicht so hauchzart.
Mitten hinein führt uns Hartmut Lange, wenn er seine Geschichten beginnt: Eine Beobachtung, ein Wetterleuchten, ein Ort reichen, um den Rahmen zu schaffen. Kein Wort zu viel schenkt er uns, und doch ist alles da. Seine Sprache ist klar und prägnant, dennoch poetisch. Sie fokussiert, verdichtet das Geschehen. Wenig nur reicht und es ist, als malte er einen Strich und vor uns entsteht ein Bild. Zeitsprünge werden mühelos überbrückt. Wo könnte dies leichter sein als in Rom, der ewigen Stadt, in der jahrtausendealte Geschichte in jedem Stein schlummert? Wo könnte es ausdrucksstärker sein als an der Ostseeküste mit ihrer wunderbaren Bäderarchitektur? Wo surrealer als in seiner berühmten „Waldsteinsonate“ aus dem Jahr 1984, in der Franz Liszt in den letzten Kriegstagen im Führerbunker versucht, gegen den Tod der fünf Goebbelskinder anzuspielen? Wo intensiver als in der die geistige Umnachtung Friedrich Nitzsches ausleuchtenden Erzählung „Über die Alpen“? Die Liste ließe sich endlos weiterführen. Mystisch kommt die „Heiterkeit des Todes“ daher, „Das Riemeisterfenn“ führt in eine rätselhafte Welt, „Der Tod einer Diva“ nimmt uns mit auf die Reise in die Ewigkeit. Originell sind die Einfälle dieses Literaten, mit Anklängen an die schöne Zeit der dunklen Romantik. Und immer ist er sprachlich brillant.
Hartmut Lange ist ein Grenzgänger. Der 81-jährige balanciert mit seinen Texten auf dem schmalen Grat zwischen Sein und Nichtsein, zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Hier und Dort, zwischen Gegenwart und Vergangenheit. Sein Stil scheint über den Untiefen literarischer Fallen und sprachlicher Abgründe geradezu zu schweben. Keinen Fehltritt erlaubt er sich, mögen die Geschichten auch noch so phantastisch sein. So scheint es selbstverständlich, dass wir in seinem aktuellen Band „An der Prorer Wiek und anderswo“, erschienen im Diogenes Verlag, der sein Werk seit 1984 betreut, am Ostseestrand den „Mönch am Meer“ von Casper David Friedrich begegnen, der seinen Standort in der Alten Nationalgalerie in Berlin verlassen hat, um die Welt zu entdecken. Neugierig erforschen wir an der Prorer Wiek die alte Villa, die erst ein malender Künstler neugierig, dann eine klavierspielende Dame melancholisch, für sich entdecken. Und „Emilys Schatten“ raubt uns den Atem in seiner Gnadenlosigkeit.
Hartmut Lange ist einer, dem man seine Aufmerksamkeit mit allen Sinnen schenken sollte. Ein Gewinn in jeder Sekunde, in denen man seinen Geschichten folgt. Hartmut Lange ist einer, der süchtig macht.
Hartmut Lange
Neuerscheinung: An der Prorer Wiek und anderswo: Novellen
Diogenes, Zürich 2018
Leseprobe_An der Prorer Wiek und anderswo.pdf
Gesammelte Novellen in zwei Bänden in Kassette bis 2002
inklusive „Die Waldsteinsonate“
Bei Verwendung des Textes bitte Quelle angeben bzw. verlinken.