Aber wie verträgt sich die durchgearbeitete, dynamische Interpretation von „La Bohème“ aus der Hand des Veronesers mit der über fünfzig Jahre alten naturalistischen Inszenierung von Otto Schenk und Rudolf Heinrich? Von Stephan Reimertz.
Nicht nur für Henri Murger bedeutete die tragikomische Geschichte von Leben, Liebe und Leid einer Handvoll Bohémiens im Paris Mitte des neunzehnten Jahrhunderts den Durchbruch. Auch Giacomo Puccini, bereits ein gefeierter Komponist, schaffte mit seiner 1896 in Turin unter der Leitung von Arturo Toscanini uraufgeführten Opernfassung von Murgers Roman einen neuen Sprung innerhalb der internationalen Musikwelt. Den Sänger der männlichen Hauptrolle hatte er selbst entdeckt: einen gewissen Enrico Caruso. Und am Theater Basel gab im Jahre 2008 Andrea Battistoni mit der „Bohème“ seinen Einstand als Operndirigent. Mit plastisch herausgearbeitetem Orchesterpart und perfekten Tempi brilliert Battistoni jetzt in München. Bis ins letzte durchdringt der Veroneser zusammen mit dem Bayerischen Staatsorchester die Partitur Puccinis, der nicht zuletzt ein raffinierter Instrumentierer war.
Starke Protagonisten
Aus dramaturgischen Gründen haben die Librettisten Giuseppe Giacosa und Luigi Illica die beiden weiblichen Hauptfiguren des Romans zu einer einzigen verschmolzen und damit eine der eindrücklichsten Gestalten der Oper geschaffen: Selene Zenetti, meist in Italien und Deutschland unterwegs, singt die Mimì mit der ganzen Leidenschaft und Verzweiflung der untergehenden Seele; eine Bohémienne, die ihrer tödlichen Krankheit zum Trotz über einen biegsamen und variationsreichen Sopran und perfekte dramatische Gestaltungskraft verfügt. Besonders warmen Applaus erhielt am Ende auch der Lombarde Giovanni Sala als Rodolfo, wobei das Publikum bei unserer Vorstellung Mitte Dezember eigens honorierte, wie der Sänger eine leichte Indisposition zu Beginn mit Grandezza überwand und seine Liebe zu Mimì in all der Kraft und Einfühlsamkeit ausdrückte, die der Komponist von dieser Figur verlangt. (Die Hände in den Hosentaschen bei einer Liebeserklärung, das geht aber nicht!) Die Musetta würde jeder als betont französischen Typ, vielleicht sogar als Garçonne besetzen. In München jedoch erleben wir sie mit der Baltin Mirjam Mesak in einer stark weiblichen Erscheinungsform, in der sie uns den berühmten Walzer am hintergründig „Café Momus“ genannten Lokal in mitreißender stimmlicher Rundheit präsentiert. Nachhaltig interessant und stimmlich wie agogisch vielschichtig legt Davide Luciano seine Darstellung des Marcello an. Überhaupt trägt die gleichstarke Besetzung aller sechs Protagonisten entscheidend zum Gelingen des Abends bei.
Große Welt in der Mansarde
Das Paris der Bohème ist das Paris der Mansarde unmittelbar vor Beginn der „grands travaux“, mit denen der Baron Haussmann im Auftrag des dritten Napoléon jene elegante Stadt schuf, die wir heute Paris nennen. An die Stelle der Mansarde sollte die „chambre de bonne“ treten, winzige Dienstmädchenzimmer im sechsten Stock, die bis heute überlebt haben und die gern von Studenten bewohnt werden, wenn auch oft zwei zu einem kleinen Studio mit Bad zusammengelegt sind. Eine Mansarde, zumal mit einem großen Atelierfenster, wie wir es hier in Rudolf Heinrichs Bühnenbild sehen (Entwurf im Programmheft), beherbergte heute ein Luxusapartment. Sehr realistisch wiederum ist der Umzug an den Stadtrand, wie hier im dritten Akt. Am Beispiel von Pantin bei Paris könnte man zeigen, wie ein Refugium des Subproletariats von den angesichts hoher Wohnkosten aus dem Stadtbereich verdrängten Studenten und Künstlern entdeckt, schließlich als „in“ gilt und über Nacht gentrifiziert wird. Haussmanns „grands travaux“ waren selbst nichts anderes als eine Gentrifizierung der ganzen Stadt, inmitten derer Henri Murger seine Bohème-Feuilletons schrieb, die zu diesem Zeitpunkt bereits ein Hauch wehmütiger Erinnerung umwehte. „Paris change! mais rien dans ma mélancolie / N’a bougé! palais neufs, échafaudages, blocs, / Vieux faubourgs, tout pour moi devient allégorie / Et mes chers souvenirs sont plus lourds que des rocs.“
Oper als Memorial einer verschollenen Lebensform
Baudelaires Schwanengesang auf das alte Paris ist bekanntlich Victor Hugo gewidmet, dem es gegeben war, mit seinem romanesken Schaffen unmittelbar auf die historistische Stadtgestaltung einzuwirken. In Henri Murgers „Scènes de la vie de bohème“ hingegen haben wir ein Bild der letzten Tage vor den Umbauten und all ihrer Bewohner. Bei den Salzburger Festspielen 2012 haben Damiano Michieletto und Paolo Fantin versucht, die Handlung direkt in das Paris von heute zu beamen; mit Anna Netrebko als Punkerin. Die Produktion von Otto Schenk hat demgegenüber den Vorteil, dem Zuschauer selbst zu überlassen, welche Parallelen er zur Gegenwart und ihren Milieus ziehen möchte. Im Maßstab 1 : 1 wie in Salzburg kann man das nicht anbieten. Die naive, undialektische Herangehensweise rächte sich auf dem Fuße: Die Produktion verschwand in der Mottenkiste, während jene von Otto Schenk seit über fünfzig Jahren läuft. Schenk gilt als Gemütsmensch, der zu Hause Jugendstilmöbel sammelt. Das Stilmöbel aus seinem Antiquitätenladen ebenso wie die Bühnenbilder und Kostüme des vom DDR-Klassizismus herkommenden Rudolf Heinrich stehen bei dieser Produktion in denkbarem Gegensatz zum dramaturgisch-musikalischen Gehalt der Oper selbst, die ausdrücklich eine Meta-Ebene einbaut; um wiederum mit Baudelaire zu sprechen:tout pour moi devient allégorie.Man könnte darob Schenks Interpretation als unangemessen abtun. Möglicherweise besteht Otto Schenks Beitrag zur Opernkunst tatsächlich eher in seinen unwiderstehlichen Opernparodie-Sketchen als in seinen eigenen Inszenierungen. Verteidiger Schenks jedoch könnten an dieser Stelle ins Feld führen, wie seine naturalistische Inszenierung korrespondierendes Widerpart für die zitathafte bis symbolische musikalische Gestaltung des Stoffes durch Puccini bildet. Alfred Polgars Lob der Mansarde umschreibt zugleich den musikalischen Charakter dieser Oper: „Es gibt, die Bewohner des sechsten Stocks wissen das, ein Alpenglühen der Dächer, das an trostvoll schwermütiger Schönheit dem im Gebirge gleichkommt.“
Ein großartiges Programmheft
So wie man Verdis Zögern angesichts des Aida-Stoffes mit dem Hinweis besiegt hatte, man werde es Wagner anbieten, so interessierte man Puccini für das Bohème-Projekt mit dem Hinweis, Verdi habe gesagt, er vertone es nur deshalb nicht, weil er sich für das Sujet zu alt fühle. Viele interessante Hintergrundinformationen und Bildmaterialien bietet diesmal das Programmheft: Ausschnitte aus Murgers Roman, Bühnenskizzen, wertvolle Fotos des alten Paris vor dem Umbau, eine bislang unveröffentlichte Photographie des Komponisten, ein Überblick über zeitgenössische Reaktionen auf die Uraufführung der Oper, eine Liste von Gesamtaufnahmen. Dergleichen sind wir nicht gewohnt. Das typische Programmheft der Staatsoper von heute ist eine prätentiöse Kladde mit »Kunscht«-Werken, die nichts mit dem Stück zu tun haben und jeder Menge »Sänger:innen«. Wie kommt das jetzt zustande? Ach so! Es handelt sich um den Nachdruck des Programmhefts von 1979, das noch der liebenswürdige und kenntnisreiche Dramaturg Klaus Schultz zusammengestellt hat. Tempi passati!
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Andrea Battistoni conducts Puccini in Munich
The opera, based on Henri Murger’s novel, gained international recognition through Puccini’s premiere in 1896. Battistoni, who made his debut as an opera conductor in Basel in 2008, excels in Munich with a meticulously crafted, dynamic interpretation of Puccini’s score.
Librettists Giuseppe Giacosa and Luigi Illica merged the two female lead characters from the novel into an impressive figure, portrayed by Selene Zenetti. Her portrayal of Mimì stands out for its passion and desperation. The male lead, Giovanni Sala as Rodolfo, received particularly warm applause, and the audience acknowledged his compelling performance despite initial indisposition.
The program booklet, a reprint from 1979, provides interesting background information, including excerpts from Murger’s novel, stage sketches, photos of old Paris, and contemporary reactions to the opera’s premiere. This distinguishes it from today’s program booklets, which often feature pretentious artworks unrelated to the production.
Overall, the performance is a success, with the outstanding performances of the protagonists and the authentic staging emphasizing the timeless allure of „La Bohème.“