100 Jahre Salzburger Festspiele
Und noch ein Experiment mit Così fan tutte: Im Großen Festspielhaus in Salzburg wird Mozarts Kammerspiel der Liebe zum Selbstporträt des Bobo-Milieus. Von Stephan Reimertz.
Den idealen Raum für eine Oper zu finden, war in Salzburg schon im achtzehnten Jahrhundert nicht leicht. So berichtet ein Reisender von einer Aufführung, bei der die Bühnendecke sehr niedrig war und die Sänger nötigte, die Köpfe einzuknicken. Das Große Festspielhaus verdankt seine heutige Gestalt vor allem dem Salzburger Architekten Clemens Holzmeister und war als Allzweckbau für Kammermusik, symphonische Konzerte, große Oper und Kammeroper gedacht. Ingmar Bergman und andere Feinsinnige haben sich über die „Scheune“ mokiert. Doch für großangelegte Werke des modernen Musiktheaters wie Bernd Alois Zimmermanns Soldaten oder Al gran sole carico d’amore von Luigi Nono könnte der stilistisch unentschiedene Zweckbau in all seinen Mängeln gerade einen passenden Rahmen abgeben. Für einen Komponisten eignet sich Salzburgs zentraler Festspielsaal indes in keiner Weise: Mozart.
Mozarts Meisterwerk und seine Bühne
Allein das Landestheater in seiner Neorokoko-Gestalt bietet in Salzburg die ideale Größe und Form für Oper des achtzehnten Jahrhunderts, insbesondere. für ein Werk wie Così fan tutte, ossia La scuola degli amanti (KV 588) von 1790, Mozarts Kammerspiel und Lehrstück über die Liebe, das man als das konzentrierteste Bühnenwerk des Meisters ansehen darf; sechs Hauptfiguren ohne Nebenrollen, ein psychologisches Experiment von geradezu mathematischer Präzision und die skeptisch-humane Quintessenz einer französischen moralité atmen wie kaum ein anderes Werk der Bühnenliteratur den Geist des späten Dixhuitième und zeichnen ein Porträt des Ancien Régime an seinem Ende. Von all dem sieht man in der Neuinszenierung in Salzburg gar nichts. Bühnenbildner Johannes Leiacker deutet im einzigen Bühnenbild eine Altbauwohnung mit weißen Wänden an, spärlich bis gar nicht möbliert, wie sie in Berliner Bobo-Kreisen seit dem Purifikationsschub der achtziger Jahre im Schwange ist. Dazu stimmen die Kostüme von Barbara Droshin, die sich edler Schlichtheit und Zurückhaltung befleißigen und ein linksliberales Medien- und Agenturenmilieu der besseren Wohngegenden in Großstädten von heute vorführen. Vermutlich geht man nicht einmal zu weit, wenn man diese Neuinszenierung als ein Selbstporträt jenes neuen Juste Milieu versteht, welches sein soziales und ökologisches Gehabe in keiner Weise als Widerspruch zu extrem anspruchsvollem und daher asketisch wirkendem Konsumgebaren sieht.
Oper des Dixhuitième, ans moderne Musiktheater herangeführt
Das Team um Regisseur Christof Loy hat nicht ganz Unrecht, wenn es das neue Bobo-Milieu als Motor der gegenwärtigen Gesellschaft und berechtigte Analogie zu den Akteuren im Stück von Mozart und Lorenzo Da Ponte interpretiert. So wie der Komponist und sein Librettist state oft the art ihrer Zeit waren, so wollen Loy und die Seinen ein Milieu zeigen, welches im Zentrum der ihren steht – ich sage nicht: „unserer Zeit“; denn meine Epoche ist die gegenwärtige nicht. Das Bühnenbild zeigt eine spezifisch deutsche Bobo-Wohnung; in Paris oder Rom sieht die Sache – zum Glück – schon anders aus. Der Opernregisseur hat das moderne Kreativen- und Funktionärsmilieu bereits in den ebenso edel wie öde stilisierten Büroinnenräumen seiner Inszenierung von Georg Friedrich Händels Ariodante bei den Salzburger Festspielen von 2017 vorgeführt. Damals schrieb ich: „Christof Loy begeht den Denkfehler der meisten Opernregisseure, wenn er glaubt, dem Publikum vermeintliche Parallelen zwischen dem Werk und ihrem eigenen Leben suggerieren zu müssen, indem er Figuren zeitgenössische Kostüme antut. Das Publikum würde ohnedies erkennen, was an einem Werk abgetan und was zeitlos ist. Es würde sich auch ohne diese Winke mit dem Zaunpfahl mit den Figuren auf der Bühne identifizieren, auch wenn diese im historischen oder phantastischen Kostüm aufträten.“ Dies gilt auch für die neue Salzburger Inszenierung. Wie vor drei Jahren kann man Loys Konzept als „Oper, ziemlich evangelisch“ empfinden. Vermutlich würde sich das Regieteam damit nicht einmal falsch verstanden fühlen. Wenn man auch die neue Così, anders als damals Ariodante, nicht als „beklommene Oper“ sehen wird, so dürfte einem die stringent durchpuritanisierte Produktion doch ebenso viel Bewunderung wie Befremden abnötigen. Ein Hauch von Bauhaus, ja von Ikea schwebt über der viel zu breiten Bühne, von der alles Überflüssige verbannt ist. Auch Loy ist ein Aufräumer und Entrümpler; in ganz anderer Art freilich als Wieland Wagner: Auf seiner leergefegten Bühne erheben sich nicht die Symbole von Archetypen, sondern die Typen der zeitgenössischen Kultur.
Einladung zur Kompliziertheit des Lebens
In Sachen einer psychologisch sinnfälligen und immer wieder überraschenden Personenregie allerdings kann kaum jemand Loy etwas vormachen. Ein Opernregisseur sollte immer auch Choreograph sein; und das ist Christof Loy: ein Choreograph zwischenmenschlicher Beziehungen. In den komplexen Verhältnissen von Così fan tutte kann er seine ganze Virtuosität der Personenführung und Verdeutlichung von Konstellationen ausspielen. So nennt der Regisseur diese Arbeit seine „Einladung zur Kompliziertheit des Lebens“; und in der Tat kann man die Geschichte von den beiden Freunden Guglielmo und Ferrando, die in einer Wette mit dem Libertin Don Alfonso um die Treue ihrer Geliebten jeweils die Verlobte des anderen verführen, nicht einseitig, sondern aus sechs verschiedenen Blickwinkeln betrachten, genauer gesagt: aus sieben, denn außer jenem der durchtriebenen Zofe Despina kommt ja noch der Blick des Zuschauers hinzu. Keiner wird hier denunziert, und die glückliche Hand, welche innerhalb kurzer Frist die Besetzung der Produktion ermöglichte und in Elsa Dreisig (Fiordiligi) und Marianne Crebassa (Dorabella) zwei für heutige Così-Produktionen ungewöhnlich nah beieinander liegende vertikal starke Soprane, dagegen in André Schuen einen deutlich männlich-kräftigeren Guglielmo und in Bogdan Volkov einen interessant matt-silbrig klingenden Ferrando besetzte, trägt von musikantischer Seite kongenial zu dem in jeder Hinsicht durchkomponierten Opernabend bei. Lea Dessandre füllt als Despina die Rolle der komödiantischen Zofe, des Arztes und Advokaten zum Entzücken des Publikums glorios aus, und Johannes Martin Kränzle gibt einen erfahrungs- und stimmsatten Don Alfonso, dessen pessimistische Sicht auf die sexuelle Treue sich am Ende als die richtige erweist. Treue ist keine Frage des Charakters, sondern der Gelegenheit, dies bezeugt auch die Versuchsanordnung des späten achtzehnten Jahrhunderts, welche im neunzehnten soviel Befremden auslöste, und die heute vom Salzburger Regieteam in sehr beschränkter, enger Weise auf unsere Zeit und ihr eigenes Milieu bezogen wird, wo es doch gerade ihre Allgemeingültigkeit dartun wollte.
Joana Mallwitzens feinnerviger Mozart-Klang
Dem Opernhabitué sind Joana Mallwitz und ihr musikalisches Handeln vor verschiedenen Bühnen des Welttheaters bereits wohlvertraut, die neue Silhouette einer besonders sportlichen Tilda Swinton erobert die Opernhäuser der Welt und ist hier zum ersten Mal bei den Salzburger Festspielen zu sehen. Kein Orchester kann sich ihrer mitreißenden Verve entziehen, auch die Wiener Philharmoniker nicht; und so erweist sich ihr weiches, zugleich kristallklares, analytisch-pointiertes Dirigat als eine ideale Musik für das Theater, da sich in dieser für sie bereitgestellten Landschaft die Sänger-Darsteller bewegen können wie in einem Garten Eden. Ihr schwebender, singend sagender Orchesterpart erreicht uns wie der allwissende Kommentar eines alles verstehenden, alles verzeihenden auktorialen Erzählers. So wird Mallwitz zu einem der wenigen Dirigenten, welche die philosophische Dimension, die unter Mozarts Kunst liegt wie phlegräische Felder, in das Bewusstsein hinaufbefördern. Dank der dicht ineinandergreifenden Arbeit von Musik und Regie ist eine perfekte Produktion in Salzburg gelungen; wenn man denn ihre Präliminarien akzeptieren mag. Die Milieu- und Zeit-Einengung auf die Bobos von 2020 wischt gerade jene Allgemeingültigkeit der menschlichen Themen, die hier erörtert werden, hinweg, die sie belegen soll. Zudem wird wieder einmal als inszenatorische Tugend und Fähigkeit zur Zeitgenossenschaft ausgegeben, was in Wirklichkeit die Unfähigkeit zur Anciennität ist. Im Gegensatz zur Dirigentin und den unter ihrer Hand aufblühenden Wiener Philharmonikern geht dem psychologisch doch so überzeugend arrangierenden Regieteam jeder Sinn für Geist und Habitus des Dixhuitième als dem letzten Aufscheinen der alteuropäischen Adelskultur und dem Menschenbild der Aufklärung mit all seinen feinnervigen ästhetischen Implikationen ganz und gar ab. Freilich, ein Film wie die Liaisons Dangereuses entsprang der Regie eines Altösterreichers, der den Zauber des Alten Reiches mit der Muttermilch aufgesogen hatte. Doch will man die neudeutsch-preußische Kultur à la Christof Loy auf der Opernbühne wirklich sehen, die uns hier eine psychologisch reich abschattierte, aber eben auch völlig geheimnislose Atmosphäre präsentiert? Im Sinne ihrer Gründer Max Reinhardt, Hugo von Hofmannsthal und Richard Strauss folgen die Salzburger Festspiele dem „ureigenen Kunstgedanken des bayrisch-österreichischen Stammes“ (Hofmannsthal); ja, man könnte darüber hinaus von einer Wiedergeburt, vom Fortleben der universalen europäischen Kultur des Barock sprechen, welche in den Festspielen heuer ihr hundertstes Jubiläum feiert. In diese Welt wächst die preußische Bauhaus-Così schwerlich hinein und gehört umso mehr in den Zusammenhang des Neopuritanismus, welcher Österreich derzeit unterwandert und das Land und seine Kultur hinwegschwemmen wird, sollte man ihm nicht Einhalt gebieten.
Das Liebesexperiment als Opernexperiment
An experimentellen Aufführungen von Così fan tutte hat es in den letzten Jahren nicht gefehlt. Da war die von Ideen sprühende deutsch-italienische Fassung an der Theater-Akademie »August Everding« im Münchner Prinzregententheater unter Regisseur Bruno Klimek Anfang 2019, da war die Version der Münchner Kammeroper zu Weihnachten im Cuvilliérstheater mit nur zwölf Instrumentalisten, alle auf der Bühne, darunter Akkordeon und, auch zum Begleiten der Rezitative, einer Gitarre, mit jugendlichen, begeisterten Darstellern. Auch die neue Salzburger Così kann man als Experiment bezeichnen, wenn dies auch den Zeitläuften und ihren virologischen Glaubenssätzen geschuldet ist. So dankbar man sein darf, wenn in diesem Sommer, im Gegensatz etwa zu Bayreuth, in Salzburg überhaupt Festspiele stattfinden, wenn auch mit reduziertem Programm, so fragwürdig erscheint die Kürzung eines Klassikers von Mozart um ein Drittel. Was wäre in Bayreuth los, wenn man Tristan oder Walküre dergestalt zusammenstreichen würde? Die Argumentation: „Da es keine Pause geben darf, kann die Oper nur zwei Stunden dauern“ ist schon darum fragwürdig, weil nicht wenige Festspiel-Besucher bei der Anreise, sei es in Bahn, Auto oder Flugzeug, länger, zum Teil weit länger als drei Stunden am Stück, sitzen müssen. Das Maskentragen im Festspielhaus fanden wir dagegen lustig, es erinnerte ein wenig an den Karneval und stellte beim Wiedererkennen von Premierenbekannten kleine Herausforderungen dar. Sobald das Licht erlosch, durften wir die Masken abnehmen. Dem Streichkonzert fielen u. a. das Männerterzett E fede delle femmine, Despinas Arie und verschiedene Rezitative zum Opfer, Guglielmos Donne mie, la fate a tanti u. v. m. Der gestauchten Zeit der Oper stand die gestreckte Riesenbühne gegenüber, so hatte man es alles in allem mit einem sowohl ausgezogenen als auch gekappten Apfelstrudel zu tun, allerdings einem sehr wohlschmeckenden.
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