Mit seinem ersten weltweiten Erfolg hat der Maestro Verdi ein Werk geschaffen, dem das Entzücken von Kindern und Opernneulingen ebenso sicher ist wie jenes der Kenner. Die Inszenierung von Bartlett Sher mit Bühnenbild von Michael Yeargan setzt unter der musikalischen Leitung von Giedrė Šlekytė Verdis Meisterwerk „Rigoletto“ kongenial um. Von Stephan Reimertz.
Der mexikanische Bariton Alfredo Daza ist ein Rigoletto, wie er im Buche der tragischen Menschheitsgeschichte steht. Im getretenen und gedemütigten Spaßmacher am Hofe des Herzogs von Mantua ballen sich Rachegedanken zusammen, so lange, bis er explodiert. Bei all der atemberaubenden Modulation- und Entwicklungsfähigkeit seines starken Organs bleibt Daza immer Charakterdarsteller. Rigoletto ist eine der herausforderndsten, aber auch dankbarsten Rollen der Oper, und Daza zieht uns gewaltsam in eine menschliche Tragödie hinein, die weit über die Situation eines Hofnarren hinaus reicht und Allgemeingültigkeit beanspruchen darf. Wer denkt bei seiner Arie Povero Rigoletto! nicht an das ein Menschenalter später komponierte Ridente pagliaccio! Der Mensch steht hier nackt und vermeintlich lächerlich da, und wir sind es alle in unserer conditio humana.
Musikalische Moritat
Mutig und unkonventionell stellte Gioseppe Verdi in seinem 1851 in der Fenice uraufgeführten Werk einen Bariton als Hauptfigur auf die Bühne. Auch der österreichischen Zensur der damaligen Zeit können wir dankbar sein, dass sie eine Umbenennung und geographische Verlegung erzwang. Verdis etwas zu viel und darum nichtssagender Titel La Maledizione (Der Fluch) wurde verworfen und der Name erschaffen, den heute jeder kennt. Zudem freuen sich die Vertreter des mantuanischen Fremdenverkehrs, dass die Oper in ihrer Stadt und nicht in Paris spielt. Sie bieten das Haus des Rigoletto ebenso zur Besichtigung an wie die Höhle des gedungenen Mörders Sparafucile. Und in der Tat: In Paris wäre alles anders verlaufen. Die flussumrankte Halbinsel mit der Altstadt von Mantua stellt der Vorstellungskraft einen weit besseren Ort für die haarstäubende Räuberpistole zur Verfügung, die außer »Opera« keine spezifische Gattungsbezeichnung führt, und die man wohl am besten als musikalische Moritat bezeichnet.
Meisterhafte Inszenierung aus divergenten Bestandteilen
Selbst unspektakuläre Plätze in Mantua wie der Palazzo di Te profitierten im Nachhinein von der Verfügung der österreichischen Zensur, als dort 2010 der Rigoletto-Film mit Plácido Domingo und Julia Novikova gedreht wurde. Allerdings setzt die Berliner Inszenierung, die seit 2019 an der Staatsoper zu sehen ist, den geschmeidigen Bildern des Opernfilms eine eigene, komplexe wie überzeugende ikonographische Welt entgegen. Innerhalb der kussroten Grundfarbe werden der säulenbestückte Palazzo des Herzogs, das einfache, aber saubere Zuhause Rigolettos und seiner Tochter sowie Sparafuciles Spelunke mit geradezu konventioneller Konkretion gezeigt, dann aber mit Hintergrundbildern konterkariert, bei denen es sich um vergrößerte George-Grosz-Szenarien handelt: Das Großstadt- und Wimmelbild als Kontrast zu den kleinen Intrigen der Residenzstadt. Das ist thematisch und ästhetisch sehr gelungen. Die Kostüme von Catherine Zuber wiederum bewegen sich zwischen spätem 19. Jahrhundert und den Zwanziger Jahren. Dass diese divergenten Elemente dann doch zusammenklingen, gehört zum Zauber der meisterhaften Inszenierung.
Die Liebe von Vater und Tochter
Ein Vater verteidigt die Unschuld seiner Tochter und schreckt selbst vor Mord an dem Verführer nicht zurück. Denkt der deutsche Zuschauer dabei zuförderst an Emilia Galotti, mag dem Autor der Vorlage, Victor Hugo, die Legende der Römerin Verginia nähergelegen haben, wie Livius sie uns überliefert. Mit gekonnter Souveränität und ohne alle forcierte Erregung von Aufmerksamkeit wird hier ein Beispiel der Oper anschaulich gemacht, das selbst schon ein musikdramatisches Wunderwerk darstellt, indem es ein grobes dramatisches Konstrukt mit subtilster Zeichnung von Seelenzuständen, scharf herausgearbeitetes musikalisches Themenmaterial mit zartesten Zwischentönen vereint. Mit Rigoletto ist Giuseppe Verdi die coincidentia oppositorum gelungen. Mit diesem Werk ging sein Stern über der ganzen Welt auf, um nie wieder zu versinken. Herzstück der Handlung ist die Liebe des einsamen und armen Spaßmachers zu seiner Tochter und die Ergebung der kindlichen Gilda wiederum an den Vater. Um eine solche, Sympathie und Erschütterung erzeugende Vater-Tochter-Beziehung zu finden, müsste man bis zur Walküre und Wotans Abschied von Brünnhilde gehen, oder, in Verdis eigenem Œuvre, zu Simon Boccanegra und seiner Tochter Amelia.
Subtile Psychologie
Kein Wunder, dass wir uns in der Berliner Inszenierung als Zuschauer sofort im Bereich der emphatischer Erfahrung wiederfinden, sobald der alte Spötter und seine unschuldige junge Tochter aufeinandertreffen. In dem Moment, da Aida Garifullina als Gilda den Mund auftut, begreift auch der Opernfremde, warum sie so berühmt ist. Wir haben es nicht allein mit einer hochmusikalischen Soprangestaltung zu tun; die Sängerin vermag ihr außergewöhnliches Können auch in jedem Moment in den Dienst der Schilderung komplizierter Seelenzustände zu stellen. Und auch hier weist die dramaturgisch auf den ersten Blick so grobgezimmerte Handlung ironische Zwischentöne auf. Gilt die erste große Arie der Gilda, Caro nome, dem Namen des Geliebten, nicht diesem selbst, kann der aufmerksame Zuschauer nicht übersehen, dass dieser caro nome ein falscher Name ist, denn der Herzog von Mantua hat sich als armer Student ausgegeben, um bei der Schönen zu reüssieren. In unserem heutigen neoliberalen Zeitalter wäre wohl ein umgekehrtes Vorgehen vielversprechender.
Ein Prachtstück der Staatsoper
Pene Pati ist ein Herzog, wie er im Buche steht; kein böser Mensch, nur verliebt er sich eben jede Viertelstunde in eine andere. Verdi gibt dem Adeligen für seine Liebesarien durchaus ernsthafte Musik, und Pati, samoanischer Herkunft, steht mit all seinem strahlenden Charisma als eine Art Super-Italiener vor dem begeisterten Publikum. Grigory Shkarupas mit seinem eindringlichen Bass wiederum überzeugt die Zuschauer mit einer geradezu unternehmerischen Ernsthaftigkeit, mit der er sein Mordgeschäft betreibt, auch wenn er seinen Kunden Rigoletto am Ende betrügt. Das Quartett Bella figlia dell’amore fasst eine musikalisch und dramaturgisch gelungene Inszenierung zusammen, auf die die Staatsoper stolz sein kann. Zum Gelingen trägt in hohem Maße Kapellmeisterin Giedrė Šlekytė und die Orchesterakademie bei der Staatskapelle Berlin bei, die einen disziplinierten, nachgerade rezenten Orchesterpart bereitstellen, mit dem sich die Sänger maximal entfalten können, und der uns die eine oder andere Abschattierung des Meisterwerks, die wir bisher überhörten, in all ihrem Raffinement deutlich macht.
Zum letzten Mal in dieser Spielzeit am Samstag, 15. Juni 2024, 19.30 Uhr
Staatsoper Unter den Linden
Unter den Linden 7
10117 Berlin
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„Rigoletto“ at the Staatsoper Berlin.
Giuseppe Verdi’s „Rigoletto“ captivates both children and opera newcomers as well as connoisseurs. Under the musical direction of Giedrė Šlekytė, Bartlett Sher’s production brilliantly brings Verdi’s masterpiece to life. Mexican baritone Alfredo Daza impressively embodies the tragic court jester Rigoletto. His thoughts of revenge and the human tragedy he portrays extend far beyond the role of a jester and reflect universal human experiences.
Verdi’s decision to feature a baritone as the main character in his 1851 premiere was bold and unconventional. The original title „La Maledizione“ was discarded, and thanks to Austrian censorship, the opera is set in Mantua instead of Paris. This provides a more fitting setting for the dramatic plot. Today, tourists in Mantua can visit Rigoletto’s house and the cave of the assassin Sparafucile.
The Berlin production, which has been staged at the Staatsoper since 2019, creates its own complex iconographic world. Within a kiss-red backdrop, various settings are depicted and contrasted with George Grosz’s background images. Catherine Zuber’s costumes range from the late 19th century to the 1920s, masterfully blending the production’s divergent elements.
A central theme of the opera is the love between Rigoletto and his daughter Gilda. Aida Garifullina as Gilda impresses with her ability to portray complex emotional states. Pene Pati as the Duke of Mantua and Grigory Shkarupas as Sparafucile also contribute to the successful production. The quartet „Bella figlia dell’amore“ encapsulates the musically and dramaturgically accomplished production. Conductor Giedrė Šlekytė and the Orchesterakademie of the Staatskapelle Berlin provide a disciplined orchestral part that supports the singers optimally and highlights the refinement of the masterpiece.