Lise Davidsen und Klaus Florian Vogt sind die vielumjubelten Stars bei der Premiere der neuen Bayreuther »Walküre«. Ein Bühnenunfall beschert dem Publikum am Grünen Hügel zwei Wotane und bringt einen unverhofften weiteren Star hervor. Doch was taugt der »Ring des Nibelungen« in der Neuinszenierung von Valentin Schwarz überhaupt? Von Stephan Reimertz.
Als Wotan alias Thomas Konieczny sich in der Mitte des zweiten Aktes der neuen Bayreuther »Walküre« auf einen Fauteuil niedersetzt, bricht er mit demselben zusammen. Der Knoll-Klassiker, in den sechziger Jahren in jeden Akademiker-Haushalt wie die bunten Bände der Suhrkamp-Taschenbücher vorhanden, zerbricht in drei Teile. Nun kann man trefflich über die soziologische Bedeutung dieses Ereignisses philosophieren: Zerschellt die Gesellschaft? Regisseur Valentin Schwarz legt seine Neuinszenierung vom »Ring des Nibelungen« als psychologisch-gesellschaftliche Studie an, soviel ist am ersten Tag des Bühnenfestspiels schon klar. Er entscheidet sich damit für die links-konservative Interpretationstradition der Tetralogie. Der Zuschauer darf gespannt sein, ob das Regieteam auf diesen ausgetretenen Pfaden neue Umwege und Abkürzungen auftun wird.
Unvoreingenommen herangehen
Nach Besuch der »Walküre« am Montag darf man Regisseur Valentin Schwarz, Bühnenbildner Andrea Cozzi und Kostumier Andy Besuch ein feines Gespür für die Gesellschaft der heutigen Zeit und die psychischen Modelle zugestehen, die von Generation zu Generation weitergereicht werden. Und in der Mitterandschen Pyramide fand das Team ein überzeugendes Symbol ebenso der teleologischen Verflechtung der Generationen wie der numinosen Kraft des Göttlichen. »Es erben sich Gesetz und Rechte / Wie eine ew’ge Krankheit fort« könnte das Motto dieser nicht allzu überraschenden Schwarzschen Fassung sein. Allerdings zeigt sich die Neuinszenierung bisher noch nicht als Neuinterpretation. Das Regiekonzept ist im Muff der pseudosoziologischen Familienerzählung steckengeblieben, wie wir sie in Bayreuth seit dem Chereau-Ring erleben. Im 21. Jahrhundert ist diese Regiearbeit, soweit man sie bisher beurteilen kann, ebenso wenig angekommen wie am Grünen Hügel derzeit »Tannhäuser«, »Holländer« und »Lohengrin«.
Wagners Wille ignoriert
Das kleinbürgerliche Bastlermilieu, in das der erste Aufzug uns führt, zeigt ein verrümpeltes Haus am Waldrand. Auch hier erinnert das Bühnenbild in manchen Zügen an jenes des Berliner »Rings« in der Regie von Götz Friedrich von Anfang der neunziger Jahre. Hunding ist mitnichten ein Waldmann, vielmehr ein kleinbürgerlich-zwanghafter Funktionärstyp. Aus dem germanischen Kämpen wurde der bundesdeutsche Ladenschwengel. Was ist furchterregender? Georg Zeppenfeld konterkariert die Zwangsverzerrung und -verzwergung der Regie mit einer eindrucksvoll-furchterregenden Bassstimme. Dramaturgisch unlogisch bleibt dabei, wie Hunding nicht etwa von draußen ins Haus kommt, sondern bereits drin ist und von einer Treppe aus einem leicht erhöhten Pflanz- und Bastelraum steigt. Aber auch während des Vorspiels, das uns musikalisch einen durch den Wald hetzenden Siegmund zeigt, müssen wir in einer vom Willen das Autors abweichenden Personenführung den Fliehenden bereits im Hause sehen. Und so geht es weiter. Natürlich erfolgt all das nicht ohne Absicht. Allein wenn man Wagner, den genialen Dramaturgen, einen guten Mann sein lässt, sollte man eine plausible Alternativdramaturgie anbieten. In dieser Inszenierung jedoch gibt es zu viele »red herrings«, wie man im Kriminalroman ein Motiv nennt, das zu nichts führt.
Requiem für eine Requisite
Besonders arg und willkürlich wird es, wenn sich das zentrale Symbol des Schwertes durch eine Pistole ersetzt zeigt. Freilich erkennt man zunächst gar nicht, womit die Darsteller da herumfuchteln. Requisiten kann man mitnichten 1 : 1 auf der Bühne einsetzen. Sie müssen in der Regel größer als der Originalgegenstand sein. Peter Stein erzählt gern die Geschichte, wie er als Regieassistent bei Kortner an den Münchner Kammerspielen jeden Gegenstand von der Requisite in drei Größen anfertigen ließ und dann bei den Proben entschied, welcher verwendet wurde. Das war professionelle Regiearbeit und steht im Gegensatz zum heute üblichen Soziologie-Laienspiel auf Bühnen im deutschsprachigen Raum. Und wenn man schon im satirischen Realismus dilettiert, sollte jeder Topos wenigstens in seiner konkreten Bedeutung zu fassen sein. So wandelt sich am Ende des ersten Aufzugs in der Liebesszene die Bastlerhütte in einen eleganten Raum. Die zwei getrennten, doch ineinander sich spiegelnden Leben der Zwillinge drückt sich in diesem Doppelraum aus. Man kann indes nicht sagen, ob es sich um ein Privathaus oder eine Hotelsuite handelt. Das wäre aber nötig, wenn die Regie hier schon ein viel und nichtssagendes Zwillingspaar (Kinderdarsteller) vorschiebt und wir wiederum raten dürfen, ob es sich um eine Rückblende in Sigmunds und Sieglindes Kindheit oder einen Vorgriff auf das von ihnen gestiftete Geschlecht handelt.
Zeitliche Rösselsprünge
Das abgegriffene Regiekonzept versucht, den Familienroman im »Ring des Nibelungen« zu betonen. Das Geheimnisvolle daran hält sich in Grenzen. Eher ist es allzu ostentativ. Alle sind »Idioten der Familie«, um Sartres Schlagwort über Flaubert zu bemühen. X-mal gesehen. Kleiner Trost: Siegmund und Sieglinde retten die Welt. Neben Klaus Florian Vogt in seiner physisch und stimmlich charismatischen Erscheinung begeisterte Lise Davidsen als Sieglinde mit einer seelen- und kraftvollen Stimmgestalt. Das Regiekonzept will betont wissen, wie man die Frage der Geschwister auch nach vorn projizieren kann, und in der Erinnerung an dieselben auch die Kinder erblickt, die Zukunft. Dies findet sich auch in einer kleinen Familienfeier im zweiten Aufzug aufgetragen. Die sowieso schon ausgefranste Dramaturgie freilich ist damit zusätzlich belastet, der Zuschauer unnötig verwirrt. Der erste Akt erhielt bei der Premiere frenetischen Applaus ohne einen einzigen Buhruf. Die Begeisterung galt den beiden Hauptdarstellern.
Der Sessel und sein Eigenwille
Soziologisch genau als hochgekommene Plebejer wird der Clan im zweiten Aufzug adressiert; topographisch indes schon wieder unentschieden. Sind wir hier in einem Privathaus, einem Hotel (Barkeeper steht bereit), oder gar einer Trauerhalle? Denn ein weißer Sarg steht auf der Bühne. Wer liegt drin? Ein sinnvolles Regiekonzept! Nebenan wartet eine Kante von Mitterands Louvre-Pyramide. Die Flucht nach Ägypten von Siegmund und Sieglinde bedürfte dieser ägyptoiden Anspielung nicht. Es ist eher der Symbolismus von Dan Brown als der Zauberflöte. Sieglinde ist hochschwanger (mit Siegfried). Das war sie aber schon zu Beginn des ersten Aufzugs. Oder ist die Sängerin als solche in guter Hoffnung? Wotan tötet normalerweise Hunding mit einem Wink am Ende des zweiten Aufzugs. Hier ist ihm auch das zu viel. Er schickt einen Domestiken. Der Regisseur steigert damit Wotans Ausspruch: »Nach Walhall taugt er mir nicht!« Das gilt freilich für den ganzen Clan, der hier zusammengekommen ist. Valentin Schwarz zeigt eine spezifisch bundes-, ja westdeutsche Gesellschaft: Ein aus einer plebejischen Revolution hervorgegangenes prätentiöses Milieu. »Die steigende Flut hebt alle Boote«, sagt ein amerikanisches Sprichwort. Wie oft haben wir das, gerade im »Ring des Nibelungen«, schon gesehen? Was ist der Erkenntniswert? Der klassische Knoll-Sessel steht in der Mitte. Er wird bei der Premiere eine Rolle spielen, die die Beteiligten so nicht vorgesehen haben.
Die zerbrochene Regie
Souverän, stimmgewaltig und sigoril will sich Tomasz Konieczny in das allzu symbolische Möbel setzen, das in den sechziger Jahren in jede Ärzte-, Architekten- und Professorenwohnung in Westdeutschland gehörte. Doch das Requisit zerbricht in drei Teile. Mit meinen Sitznachbarn rätsle ich in der Pause: Soll hier das Zerbrechen der bundesrepublikanischen Gesellschaft symbolisiert werden, für die ein Begriff wie Nouvelle Bourgeoisie in der Tat bereits zu hoch gegriffen erscheint? Oder hat sich hier ein Bühnenunfall ereignet, mit dem Konieczny-Wotan und die Statisten äußerst professionell improvisierend umgegangen sind? Wer allerdings die Krankenwagen vor dem Festspielhaus vorfahren sieht, ahnt Schlimmes. Und in der Tat tritt vor Beginn des dritten Aufzugs der Pressesprecher vor den Vorhang und berichtet vom Unfall Koniecznys. Er ist schwer verletzt. Umso mehr Bewunderung gebührt ihm für das Durchhalten im zweiten Aufzug.
Schönheitsklinik als Treffpunkt der Walküren – wie originell!
Wer ein Stück inszenieren will, insbesondere den »Ring«, sollte eine der Ikonographie des Werkes entsprechende Binnenikonographie finden, die jener vollkommen angemessen ist. Die Veränderung eines zentralen Motivs, wie jene des Schwertes, bedarf einer besonderen dramaturgischen Begründung, diese steht hier noch aus. Außer dem was sie zeigen soll, offenbart eine Inszenierung immer auch, was dem Regisseur unbewusst, da allzu selbstverständlich ist. Das Problem dieses Konzepts, den Zuschauern einen Spiegel vorzuhalten, besteht darin, wie dann das ungeheure Gefälle eines Untergangs der Götter nicht mehr plausibel erscheint. Es handelt sich ja lediglich um das Verlöschen eines auf- und absteigendes Plebejerclans. Das ist etwa so, als beschriebe der orchestrale Aufwand der Holländer-Ouvertüre wie zwei Enten einen Frosch verfolgen. Das wäre arg überzeichnet. Wer dramaturgisch etwas ändert, sollte sich aber stets auf der Fallhöhe des Dramas halten, auf der gesellschaftlichen, vor allem der menschlichen. Wenn, auch sozial, zu niedrig angesetzt wird, kann sich das gesamte Drama nur in physischen Verstrickungen bewegen und in seiner kleinen Kiste nicht mehr entfalten. Man denke an einen Unternehmer, der von einem Clan entführt und in einer kleinen Kiste gefangen wird, in der er sich nicht mehr ausstrecken kann. Schnell wird die Kiste auch zum Sarg. So ist auch die Schönheitsklinik am Beginn das dritten Aufzugs als Metapher zu abgeschmackt. Christa Mayer steht bereits im Familienstreit mit Wotan stimmlich und darstellerisch ihre Frau, darf nun als Schwertleite mit zickigen Walkürenschwestern in den weißlich überbelichteten, symbolisch unterbelichteten, Raum einfallen. Irene Théoin gibt eine grandios aufgedrehte, ungemein energetische Brünnhilde.
Michael Kupfer-Radecky rettet den Abend
Neben dem Moment, da Gurnemanz den gereiften und veränderten Parsifal nach dessen jahrelanger Irrfahrt wiedererkennt und begreift, was sein Wiedererscheinen bedeutet, ist doch die Abschiedsszene von Wotan und Brünnhilde die am tiefsten erschütternde Szene des Welttheaters. Jeder Vater, der eine flügge Tochter, jeder reife Mann, der eine töchterliche Geliebte hat ziehen lassen, wird sich ins Innerste getroffen fühlen; ebenso wie diese Szene einer Frau, die letzteres als Mädchen erlebte, noch in späteren Jahren »das Herz wie mit Messern zerschneidet«, wie Nietzsche über das Vorspiel zum ersten Aufzug des »Parsifal« schreibt. Wie der kurzfristig für den verletzten Tomasz Koniezcny eingesprungene Michael Kupfer-Radecky die Rolle in präziser Gesangsentfaltung, exzellenter Textverständlichkeit und glaubwürdigem Schauspiel ausfüllt, ist das Wunder, das die Premiere rettet. Der Bühnenraum verwandelt sich in einen U-Topos, denn allein ein Nicht-Ort kann Schauplatz sein des ewigen Abschieds vom mädchenhaften, töchterlichen Ich-Ideal. Wie vor einem Garagentor des Todes krümmt sich Kupfer-Radecky auf der Erde, wie denn eine solche Trennung im Grunde schon der Tod selbst ist. Der Feuerzauber Loges wird nur mehr als einsame Kerze zelebriert. Der Holzschlag bei der Anrufung Loges als Klingen der Gläser ironisiert das Ende dann doch.
Ceterum Censeo: Das Regietheater sollte überwunden werden
Das Regietheater geht von dem Denkfehler aus, den Zuschauer auf Parallelen in seiner eigenen Zeit und Gesellschaft aufmerksam machen zu müssen, die er viel mehr selbst finden sollte. Zudem verengt und verfälscht es grundsätzlich die Vieldeutigkeit eines Kunstwerks. Das hat auch der neue »Ring«, von Valentin Schwartz inszeniert, bisher wieder gezeigt. Das Regietheater ist von Anfang an gescheitert, ärgert uns Besucher indes seit einem halben Jahrhundert. Das öffentlich-rechtliche Denken in den Theaterbetrieben und das bequeme Rechnen mit staatlichen Subventionen machen dies möglich. Daher kann man bei Inszenierungen des Regietheaters nur noch darüber streiten, auf welcher Ebene sie scheitern. Die Schwarzsche Inszenierung hat bisher keine Epoche gemacht, und wir warten, wie es mit den beiden noch ausstehenden Teilen des »Rings« weitergeht. Bisher wurde uns nur die typische Systemkritik als ihr eigenes Symptom geboten. Bei der Premiere der »Walküre« wurde die Produktion ausgebuht. Der zerbrechende Sessel wurde in der Tat zum Symbol, aber nicht der Gesellschaft, sondern dieses Regiekonzepts.
Cornelius der Meister
Cornelius Meister freilich führt seinen Familiennamen zurecht. Sein fließendes Dirigat erhielt Jubel, indes noch nicht genug. Hat man schon ganz verstanden, welche ungemein subtile Detailarbeit dieser Meister in den singenden, sagenden Orchesterpart zu legen vermochte, der im Bayreuther Graben so schwer zu dirigieren ist wie nirgends sonst? Man kann von den wundervollen Einzelheiten gar nicht alle im Moment begreifen, dabei hielt sich der Kapellmeister mit dem Festspielorchester jederzeit rezent zu den Stimmen und verwirklichte so, was Wagner unter musikalischer Prosa verstanden wissen wollte. Allein schon die kristallklaren, sich ineinander schmiegenden Oboen bei Brünnhildes Schuldeingeständnis gegenüber ihrem Vater! Ein klarer Bach – in der doppelten Bedeutung des Wortes!
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