Intolleranza 1960 von Luigi Nono – was sagt uns das oratorische Musikdrama über entwurzelte Arbeitsemigranten heute noch? Einiges, findet Festspielbesucher Stephan Reimertz. Wenn Ingo Metzmacher und die Wiener Philharmoniker das historische Werk in der Felsenreitschule präsentieren, erhellen sie auch unsere Gegenwart – und nicht zuletzt ein Stück Musikgeschichte.
Die Luigi-Nono-Pflege der Salzburger Festspiele erreicht mit Intolleranza 1960, als Azione scenica in due tempi bezeichnet, einen neuen Höhepunkt, nachdem bereits vor zwölf Jahren Al gran sole carico d’amore in einer Koproduktion mit der Staatsoper Unter den Linden aufgeführt wurde. Wie damals leitet Ingo Metzmacher in der Felsenreitschule die Wiener Philharmoniker. Auch die neue Nono-Produktion in Salzburg bietet für jeden etwas:
Der Altkommunist kann sich an moralisch einfache Zeiten erinnern, wo die Unterscheidung von Schwarz und Weiß simpel war. Sean Pannikar spielt sehr eindringlich den Protagonisten, von Nono anonymisiert und schlicht un emigrante genannt, der aus dem Bergarbeiterdorf, wo er malocht hat, in die Heimat zurückkehrt und zu Hause den »Faschisten« in die Hände fällt, die ihn in einem Konzentrationslager foltern. Die Gegensätze sind klar. »Intolleranza« wird hier nicht nur gezeigt, sie wird auch praktiziert.
Der Musikexperte erfreut sich an dem großen Ernst der pathetischen, appellativen Partitur von 1960, in welcher der Komponist auf kunstvolle Art vornehmste italienische Polyphonie aufgreift und sie zu einer Art Zukunftsklang weiterverarbeitet, vergleichbar Lygetis Atmosphères. Die Konzertvereinigung Wiener Staatsoper (Choreinstudierung: Huw Rhys James) singt diese Chorpartien mit nachdrücklichem Pathos. Die deklamatorischen Teile kann man auch ohne den politischen Bezug allein als Entwicklungsstufe des Musikdramas studieren, als Stadium des Sprechgesanges innerhalb der modernen Oper.
Der Tanztheaterfan wird sich an von den Tänzern vom BODHI PROJECT und der SEAD — Salzburg Experimental Academy of Dance – erfreuen und höchstens kritisieren, wie ihnen wieder einmal, vergleichbar mit 2018 in L’incoronazione di Poppea, nicht viel mehr einfällt, als sich stetig um die eigene Achse zu drehen, was neben choreographischen auch medizinische Probleme aufwirft. Immerhin ist es schön, wenn bei den Festspielen auch Salzburger Lokalkräfte beschäftigt werden.
Der politische Intellektuelle kann bewundern, wenn der Komponist, der hier als sein eigener Librettist agiert, wie schon in Al gran sole Texte der politischen Literatur montiert; in diesem Falle von Brecht, Éluard, Majakowskij und Sartre u. a.. So endet die »szenische Aktion« mit einem Ausschnitt aus Brechts Gedicht An die Nachgeborenen. Darin gibt es eine Stelle, die Nono nicht mitvertont hat, die jedoch bezeichnend ist: »Ach, wir /
Die wir den Boden bereiten wollten für Freundlichkeit /
Konnten selber nicht freundlich sein.« Dies könnte auch ein SS-Mann in den Nürnberger Prozessen gesagt haben oder Eichmann vor dem Gericht in Jerusalem. Es ist die Entschuldigung jeglicher Gewalt und die Ankündigung, die Gewalt des Gegners in jedem Falle überbieten zu wollen. Der »Faschismus« zeigt sich hier wiederum als Schimäre, als Folie und Vorwand. Die Salzburger Inszenierung (Regie, Bühnenbild und Video: Jan Lauwers) schrickt nicht vor Folterszenen zurück, die hier auf offener Bühne zelebriert werden. Vor allem ist zu bewundern, wie die Menschenmenge, Chor und Statisten, jederzeit trotz ihrer Unübersichtlichkeit, präzis agieren. Die Regie hat die unnatürlich breite Bühne der trapezförmigen Felsenreitschule zu jeder Zeit voll im Blick und beherrscht ein geradezu babylonisches Menschen- und Stimmengewirr.
Der Psychoanalytiker kann sich wiederum davon überzeugen, wie der Kommunismus, die politische Ideologie überhaupt, mit allen Mitteln den Vatermord legitimiert. Die Vaterfigur wird zum »Faschismus« dehumanisiert; man denke nur an den Ausspruch der Terroristin Ulrike Meinhof über Polizisten: »Wir sagen, der Typ in Uniform ist ein Schwein, kein Mensch. Und so haben wir uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Das heißt, wir haben nicht mit ihm zu reden, und es ist falsch, überhaupt mit diesen Leuten zu reden. Und natürlich kann geschossen werden.« Als solche »Schweine« werden auch die Soldaten der Gegenseite in Intolleranza dargestellt. Dabei ist die Anonymisierung der Figuren ein typischer Zug, ebenso wie die Sakralisierung. Die Chöre der Oper haben einen geradezu kirchlichen Charakter, man ist an die Bach-Musik in Filmen wie Accatone von Pier Paolo Pasolini erinnern, der ebenso wie Nono Mitglied der PCI war. Was ist die Funktion dieser Sakralisierung? Offenbar soll der Vatermord – hier: Vernichtung des »Faschismus« – sakral überhöht werden, um das Schuldgefühl zu transzendieren und erträglich zu machen. Damit sind wir beim Kernproblem eines solchen Werkes angelangt: Beziehen Opern wie Intolleranza und Romane wie die Ästhetik des Widerstands von Peter Weiss ihre Kraft aus dem Anliegen der Autoren, eine politisch motivierte Geschichte zu erzählen – oder bringen sie ihrem Werk mit der Ideologie zugleich eine Schlagseite bei, die dazu führt, das Werk im Nachhinein allein historisch bedingt erscheinen zu lassen?
Der Soziologe kann studieren, wie elegante Damen und Herren sich auf der Bühne die Geschichte entwurzelter Arbeitsemigranten anschauen und am Ende begeistert applaudieren; was die szenische und musikalische Leistung angeht, völlig zurecht.
Salzburger Festspiele: Tickets für Intolleranza 1960 hier
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